1. Das DHB-Team schafft es trotzdem noch ins Halbfinale

Markus Götz: Nur wenn verrückte Dinge passieren - und das kann ich mir momentan nicht vorstellen. Die Deutschen müssten alle ihre Spiele gewinnen und aufgrund der hohen Niederlage gegen Spanien darauf hoffen, dass Kroatien nicht gegen Spanien gewinnt. Ich kann derzeit nicht erkennen, wie das DHB-Team in der Hauptrunde verlustpunktfrei bleiben sollte. Es sei denn, es findet in dieser Mannschaft jetzt eine Entwicklung statt, die aktuell nicht absehbar ist. Es müssten sich innerhalb kürzester Zeit alle Mannschaftsteile enorm steigern. Also die Torhüter, die Abwehr, der Rückraum und das Tempospiel an sich.

Florian Regelmann: Niemals. Die Konstellation ist zwar generell ja wirklich die günstigste in der Geschichte. Weißrussland? Tschechien? Österreich? Come on, das ist wirklich ein Geschenk des Himmels für eine Hauptrunde. Aber ich sehe einerseits wie Markus überhaupt nicht, warum wir in Wien plötzlich eine ganz andere Mannschaft erleben sollten. So wie das DHB-Team in der Vorrunde gespielt hat, reicht das nicht mal gegen Weißrussland, Tschechien oder Österreich. Und selbst wenn sich das Team steigert, machen die Kroaten bislang einen viel stabileren Eindruck. Die Kroaten werden auch in Wien bekanntermaßen wieder viel Fan-Support haben und Duvnjak und Co. müssen jetzt auch endlich mal wieder was reißen bei einem großen Turnier. Einfacher kommen die so schnell auch nicht mehr in ein Halbfinale. Und selbst wenn Deutschland alle vier Spiele gewinnen sollte, könnte es am Ende unter Umständen ja wie schon angesprochen nicht reichen, weil die Klatsche gegen Spanien für einen möglichen Dreiervergleich jetzt schon tödlich ist. Im besten Fall schafft Deutschland das furchtbare Spiel um Platz 5, aber ich kann mir auch vorstellen, dass es total in die Hose geht.

Der Spielplan der deutschen Mannschaft

Termin Team 1 Team 2 16. Januar, 20.30 Uhr Weißrussland Deutschland 18. Januar, 20.30 Uhr Kroatien Deutschland 20. Januar, 20.30 Uhr Österreich Deutschland 22. Januar, 20.30 Uhr Tschechien Deutschland

Felix Götz: Den Einzug ins Halbfinale kann ich mir auch nicht mehr vorstellen. Ich bin bei Florian: Mich würde es nicht einmal mehr überraschen, wenn es in Wien komplett den Bach runter gehen würde. Mich hat die Niederlage gegen die Spanier, denen eine normale Leistung gereicht hat, um die DHB-Auswahl in ihre Einzelteile zu zerlegen, weniger erschrocken als der Auftritt gegen Lettland. Diese unvorstellbare Verunsicherung in der Schlussviertelstunde gegen einen maximal zweitklassigen Gegner hat mich an meinen Aufenthalt im kroatischen Varazdin im Januar 2018 erinnert. Damals hat Deutschland in der EM-Hauptrunde absolut grauenhaft gespielt, schlechter habe ich das DHB-Team anschließend nicht mehr gesehen - bis eben zu diesen beiden letzten Spielen in der jetzigen Vorrunde. Momentan muss man in der Tat davon ausgehen, dass Deutschland in der Hauptrunde längst nicht nur gegen Kroatien große Schwierigkeiten bekommen wird.

Sascha Staat: Ich bin bei euch: Auch ich kann mir den Einzug ins Halbfinale aktuell nicht vorstellen. Denn um das Weiterkommen selbst in der Hand zu haben, muss eben ein hoher Sieg gegen Kroatien her. In Wien vor den verrückten kroatischen Fans sehe ich das einfach nicht. Ein Erfolg mit zwei oder drei Toren ist möglich, aber Kroatien fällt selten komplett auseinander. Und alle anderen Spiele müssten auch gewonnen werden. Weißrussland, Österreich und Tschechien sind aber alle deutlich stärker einzuschätzen als Lettland. Wenn ich mir dann ansehe, wie verunsichert das deutsche Team teilweise auftritt, sind diese Spiele auch keine Selbstläufer. Ein Chance besteht noch, groß erscheint sie aber derzeit nicht.

2. Das größte Problem des DHB-Teams ist ...

Florian Regelmann: Ganz klar und ganz offensichtlich die Abwehr inklusive der Torhüter. Wir müssen überhaupt nicht über den Angriff und den Rückraum sprechen, solange die Abwehr nicht steht, wie sie nun mal stehen muss. Die deutsche Handball-Formel zum Erfolg lautet: Geile Abwehr mit dem besten Innenblock der Welt hinstellen, brutalen Torwart hinten drin haben - und daraus möglichst viel ins Laufen kommen für einfache Tore. Auch wenn Wiede und Strobel dabei wären, würde es nichts daran ändern, dass sich das DHB-Team zwingend über die Abwehr definieren muss. Mit einer hervorragenden Deckung kann Deutschland viele andere Probleme kaschieren, ohne ist es völlig unmöglich, Richtung Halbfinale zu denken.

Felix Götz: Das größte Problem ist, dass es nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Sack voll Probleme gibt. Dass die deutsche Mannschaft keinen klassischen Spielmacher hat und dies ein Problem werden könnte, musste man bereits vor der Europameisterschaft befürchten. Genau danach sieht es momentan auch aus, das kommt jetzt nicht so wahnsinnig überraschend. Der Rückraum insgesamt strahlt keine Ruhe, keine Überzeugung, keine Abgeklärtheit aus. Auch das macht mir Sorgen. Darüber hinaus finde ich es wie Florian schon gesagt hat alarmierend, dass die Dinge, die eigentlich die DHB-Stärken und damit die Basis für alles sein sollten, bislang nicht funktionieren. Der Mittelblock mit Pekeler und Wiencek ist Welten von seinem eigentlichen Leistungsniveau entfernt, im Tor ist weder Bitter und erst recht nicht Wolff ein Rückhalt. Bislang!

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Markus Götz: Ich fürchte, dass es eher ein Komplex von Problemen ist als nur ein einziges. Kein Mannschafsteil funktioniert bislang so, wie man es erwartet hat. Ich bin schon enttäuscht, dass das Tempospiel quasi gar nicht umgesetzt wird, obwohl immer betont wurde, dass man unbedingt darauf setzen möchte. Ich frage mich auch, wie das überhaupt möglich sein soll, wenn man über weite Strecken mit drei Kreisläufern in der Abwehr spielt. Das ist aus meiner Sicht nicht ideal für ein zügiges Konterspiel. Vielleicht ist derzeit das nicht vorhandene Selbstverständnis das größte Problem. So wie es in der Vorrunde gelaufen ist, kann kein Selbstvertrauen da sein. Das braucht man aber natürlich zwingend, um große Gegner in engen Spielen zu schlagen.

Sascha Staat: Der fehlende, unbedingte Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist das größte Problem. Fehlt das, dann fehlt auch das Selbstvertrauen. Es fehlen Mut und Risiko. Gerade in Drucksituationen ist das keine sehr gute Kombination, im Gegenteil. Natürlich fehlen wichtige Spieler. Im Kader befinden sich aber viele gute Akteure und gerade gegen Teams wie Lettland muss einfach souveräner gewonnen werden. Das Selbstverständliche scheint der Prokop-Sieben komplett abhanden gekommen zu sein.

3. Diesen Vorwurf kann man Prokop bislang machen

Sascha Staat: Man muss Prokop sogar Vorwürfe machen. Er trägt als Trainer die Verantwortung, auch wenn das so einfach klingt. Man wird das Gefühl nicht los, dass Prokop und seine Spieler nicht auf einer Wellenlänge liegen. In den Auszeiten nutzt er Formulierungen, die aus seinen Spielern nicht das heraus kitzeln, was nötig wäre, um maximale Leistungen zu bringen. Die Bereitschaft, bis zum Ende und am besten noch darüber hinaus Vollgas zu geben, erreicht er bei den Spielern nicht. Das ist aber bitter nötig, um wieder sicherer zu werden und souveräner aufzutreten.

Markus Götz: Als Außenstehender sieht man Prokops Wirken ja nur zum Teil. Die Kaderauswahl ist für mich völlig in Ordnung. Mir fällt kein einziger Spieler ein, der noch zwingend dabei sein müsste. Von den Verletzten abgesehen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass er unter diesem gewaltigen Stress ein wenig in alte Verhaltensmuster zurückfällt, nachdem er sich nach der EM 2018 wahnsinnig bemüht hat, diese Dinge abzustellen. Da geht es vor allen Dingen um Kommunikation und deren Wirkung. Ich habe zum Beispiel in den Auszeiten Sachen gehört, die aus meiner Sicht nicht gut bei der Mannschaft ankommen. Zum Beispiel rhetorische Fragen: "Und wie gewinnen wir jetzt das Spiel?" Selbst wenn er es nicht so meint, wirkt das meines Erachtens schnell oberlehrerhaft. Oder mit Formulierungen in Auszeiten wie "ihr müsst handlungsorientiert bleiben", damit kann ich nicht viel anfangen. Klar: Wenn es gut laufen würde, würde sich darüber niemand aufregen. Aber solche Aussagen halte ich für ungeschickt. Es ist absolut entscheidend, dass der Trainer die Mannschaft hinter sich hat. Wie das Verhältnis im Moment zur Mannschaft tatsächlich ist, kann ich aber nicht wirklich beurteilen.

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Florian Regelmann: So einige. Punkt 1: Jeder wusste seit langer Zeit um die Bedeutung des Spanien-Spiels. Jeder wusste, was die Spanier machen. Und das DHB-Team war von der ersten Sekunde an nicht bereit für dieses Spiel. Ich bin der Letzte, der die Spieler aus der Verantwortung nehmen will, aber das ist völlig ohne Frage Trainerverantwortung. Punkt 2: Missmanagement der Torhüter. Auch da will ich Wolff und Bitter nicht rausnehmen und alles auf Prokop schieben, aber warum er gegen Spanien zu Wolff zurückgewechselt hat und warum er gegen Lettland dann in der zweiten Halbzeit auch nochmal Wolff gebracht hat, habe ich absolut nicht verstanden. Aber auch sonst: Warum lässt er gegen Lettland so lange eine völlig ineffektive 3-2-1-Deckung spielen? Und ja, er ist grundsätzlich nicht der Typ dafür, aber warum macht er gegen Lettland in der Phase des Grauens ausschließlich taktische Ansagen, ohne sein Team emotional mal wachzurütteln? Es wäre ungerecht, alles auf Prokop abzuladen, aber wenn er es nicht schafft, in der Hauptrunde ein ganz anderes Team auf die Platte zu bringen, werden wir nach der EM - mal wieder - eine Prokop-Diskussion bekommen.

Felix Götz: Was die Kadernominierung angeht, kann man dem Bundestrainer auch meiner Meinung nach keinen Vorwurf machen. Ich finde die Zusammenstellung absolut in Ordnung, das ist die beste Auswahl, die nach den vielen verletzungsbedingten Absagen bleibt. Grundsätzlich muss man Prokop aber natürlich vorwerfen, dass er nicht ansatzweise das Potenzial der Truppe ausschöpft. Das sind immer noch alles mindestens gute Bundesligaspieler. Die Aufgabe eines Trainers ist es, aus den vorhandenen Möglichkeiten das Beste zu machen - das gelingt ihm bisher eindeutig nicht. Prokop wirkt auf mich aktuell wieder ähnlich unsicher wie bei der EM 2018. Bei mir drängt sich ähnlich wie bei Markus folgender Eindruck auf: Wenn es nicht läuft, ist er nicht mehr cool. Zu seinen von euch schon angesprochenen Ansprachen in den Auszeiten: Positiv finde ich, dass er die Spieler miteinbezieht. Negativ fällt mir auf, dass er nicht in der Lage zu sein scheint, das Team emotional zu packen. Auch das gehört für mich zu den Aufgaben eines Trainers.

4. Österreich kann die Überraschung der EM werden

Felix Götz: Mit dem Einzug in die Hauptrunde - und das auch noch mit zwei Pluspunkten - haben die Österreicher doch schon alle Ziele übererfüllt. Alles, was jetzt noch kommt, ist eine Zugabe. Und ich traue den Österreichern durchaus zu, noch den einen oder anderen Punkt zu holen. Vor Nikola Bilyk kann man nur den Hut ziehen. Der Junge ist 23 Jahre alt, weiß, dass mehr oder weniger alles von ihm abhängt - und liefert vor heimischem Publikum in dieser Drucksituation dermaßen ab. 12 von 13 Würfen saßen gegen Tschechien, neun Tore hat er gegen die Ukraine erzielt, sieben gegen Mazedonien - grandios! Der Gummersbacher Janko Bozovic überzeugt mich bislang auch, Robert Weber sowieso. Und dann ist es ja der Wahnsinn, was dieser Teufelskerl Thomas Eichberger zwischen den Pfosten abzieht. Ich habe irgendwie das ungute Gefühl, dass die Partie zwischen Österreich und dem DHB-Tam für Deutschland so eine Art zweites Cordoba werden könnte.

Sascha Staat: Dass Österreich die Überraschung der EM wird, ist durchaus möglich, denn Österreich kann den Schwung von drei Siegen mit in die Hauptrunde nehmen. Allerdings spielt Österreich zuhause und stand bislang keinen großen Teams gegenüber. Das, was Österreich bislang gezeigt hat, lag meiner Meinung nach absolut im Bereich der Erwartungen. Daher ist Ungarn für mich derzeit die große Überraschung. Die zwei größten Stars fehlen, aber Elan, Spielwitz und toller Teamgeist machen eine Menge möglich. Niemand hatte auch nur einen Cent auf die Ungarn gesetzt. Das Erreichte ist im Vergleich zu den Möglichkeiten und Erwartungen absolut bemerkenswert.

Markus Götz: Chapeau für die Vorrunde, das haben die Österreicher richtig gut gemacht. Trotzdem ist es mir noch zu früh, um bei Österreich von einer großen Überraschung zu sprechen. In der Hauptrunde werden sie gegen Spanien und Kroatien wahrscheinlich chancenlos sein, Weißrussland sollte ein Team auf Augenhöhe sein. Und auf das Spiel gegen Deutschland bin ich sehr gespannt. Wenn sie es schaffen, auf Rang drei oder vier der Hauptrundengruppe zu landen, wäre das ein großer Erfolg. Und das traue ich den Österreichern durchaus zu.

Florian Regelmann: Eine große Überraschung würde für mich bedeuten, dass Österreich ins Halbfinale marschiert. Und das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aktuell kann ich mir vorstellen, dass Österreich unter Umständen dieses Deutschland schlägt, aber sie werden weder Spanien noch Kroatien schlagen. Aber: Österreich hat genau das, was Deutschland nicht hat. Einen absoluten Star im Rückraum. Nikola Bilyk (28 Tore und 19 Assists in 3 Spielen) ist wie von Felix angesprochen eine absolute Granate und spielt bislang auf Sander-Sagosen-Weltniveau. Hätte Deutschland nur diesen Bilyk... Ich würde jeden deutschen Spieler gegen ihn eintauschen.

5. Europameister wird ...

Markus Götz: Nach allem, was jetzt schon passiert ist, ist das eine hochspannende Frage. Norwegen hat bislang den vielleicht besten Eindruck hinterlassen. Spanien ist extrem abgezockt, hatte aber mit den Niederlanden, Lettland und einer in diesem Spiel schwachen deutschen Mannschaft noch keinen Gegner, von dem sie richtig herausgefordert wurden. Die Kroaten wirken stabil, Slowenien macht unter Ljubomir Vranjes einen guten Eindruck. Wenn ich mich festlegen muss, dann sage ich trotzdem Norwegen. Sie sind vielleicht jetzt einfach dran nach den zuletzt erreichten Endspielen. Und wenn letztlich Sander Sagosen in diesem Zusammenhang zum Spieler der Turniers wird, würde mich das natürlich auch nicht überraschen.

Florian Regelmann: Norwegen. So seltsam wie diese EM verläuft, wird am Ende Slowenien Europameister... Nein, nach allem, was ich bislang gesehen habe, muss es eigentlich Norwegen machen. Die Norweger haben mit Sagosen den aktuell besten Spieler der Welt. Sagosen wird sie zum Triumph tragen. Man sieht es bei jedem Spiel förmlich, wie sehr ihn die krachende Niederlage im WM-Finale gegen Dänemark anstachelt. Sagosen will diesen Titel jetzt haben. Unbedingt. Und Norwegen ist jetzt - genau wie Markus sagt - einfach auch mal dran mit einem großen Titel.

Sascha Staat: Norwegen. Klar, Spanien spielt bislang auch extrem überzeugend, aber gegen schwächere Gegner. Norwegen hat vor allem gegen Frankreich heiße Phasen gut überstanden und zeigt bislang keine Schwächen. Andere Favoriten straucheln mächtig. Sagosen hat in seinem persönlichen Wohnzimmer in Trondheim gezeigt, dass er momentan kaum aufzuhalten ist. Dazu kommt eine tolle Defensive und unglaublich viel Tempo. Todsicher ist die Wette nicht, aber die Quoten und die rationalen Argumente sprechen für Norwegen. Slowenien könnte aber das Team sein, das zum Ende hin allen die Show stiehlt.

Felix Götz: Erstmal finde ich es grandios, dass die EM bislang ein paar Überraschungen parat hält. Und deshalb ist Frankreich schon mal raus aus der Verlosung - wer hätte das gedacht? Bis Mittwochabend hätte ich trotz allem noch auf Dänemark getippt. Aber das hat sich nun auch erledigt. Deshalb tippe ich nun - na klar - auf Norwegen. Was Sagosen & Co. bislang veranstalten, ist große Klasse. Norwegen holt das Ding, ich glaube einfach nicht an Spanien und Kroatien. Schweden hatte ich von Anfang an nicht auf dem Zettel.