Geschätzt: Wie viele Glückwunsch-Nachrichten haben Sie in den vergangenen zwei Wochen erhalten und welche haben Sie besonders gefreut?
Maria Rauch-Kallat:
Ich habe sie nicht gezählt. Aber sehr, sehr viele auf den verschiedensten Kanälen, vom Bundespräsidenten abwärts. Was mich ganz besonders freut, ist, dass die Leistungen unserer SportlerInnen in Tokio von einer so breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und mitverfolgt wurden. Das zeigt, dass die Paralympics auch in die Gesellschaft hinein wirken.

Sie beziffern vor Spielen Ihre Medaillenerwartung nicht. Rückblickend, haben sie neun für möglich gehalten?
Wir haben gewusst, dass wir ein sehr starkes Team haben, eine gute Mischung aus erfahrenen Sportlern und schnellen Debütanten. Aber am Tag X muss dann auch alles passen: die Form, das Material und es braucht das Quäntchen Glück. Wir haben fünf Medaillengewinner, und das bei 24 Sportlern, also gut 20 Prozent, dazu zahlreiche Final-Teilnahmen und Diplomplätze. Darauf können wir stolz sein.

Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?
Hervorragend. Sowohl was unsere sportlichen Leistungen angeht als auch aus organisatorischer Sicht. Die Covid-Maßnahmen waren täglicher Begleiter. Aber wichtig und richtig, denn es gab kaum positive Fälle, die aber nicht unser Team betroffen haben. Die Sportstätten waren außerordentlich, einzig die leeren Tribünen waren ein Wermutstropfen. Die sich aber trotz der einmaligen Rahmenbedingungen hier sehr wohlgefühlt haben. Daran haben auch die vielen japanischen Volunteers, die mit großer Begeisterung dabei waren, einen großen Anteil.

Was hat Sie an den Spielen abseits des Sports am meisten beeindruckt?
Dass sie stattgefunden haben und dass trotz der wirklich schwierigen Bedingungen und des Fehlens der Fans alles funktioniert hat und die Sportler guten Mutes waren. Am meisten hat mich beeindruckt, dass ich im eigenen Team keine einzige Klage gehört, sondern ich nur Freude erlebt habe.

Und emotional?
Hier einen Moment herauszugreifen würde den vielen Eindrücken, die ich aus Tokio mitnehme, nicht gerecht werden. Ich habe versucht, alle SportlerInnen vor Ort bei ihren Wettkämpfen zu unterstützen. Da gab es die Medaillen-Tage am Fuji-Speedway, aber mich hat auch die Freude von Julia Sciancalepore über ihre Leistung im Kür-Finale, als sie ihrem Pferd um den Hals gefallen ist, sehr berührt.

Was hätte eine Absage bedeutet?
Wenn die Olympischen Spiele stattgefunden hätten, aber die paralympischen nicht, dann hätte ich das als unglaublichen Affront empfunden. Das wäre eine immense Enttäuschung gewesen. Hier in Japan wurde das aber nie in Erwägung gezogen. Das waren eher Spekulationen anderer Menschen und nicht von Insidern.

Ist der Parasport in der öffentlichen Wahrnehmung weitergekommen?
Ganz sicher gekommen. Auch durch die durch Corona bedingte Veränderung in der Mediennutzung. Ich denke, dass wir in diesem Jahr altersunabhängig, virtuell wesentlich mehr Mediennutzer hatten denn je. Vor fünf Jahren war es technisch noch nicht möglich, sich die Informationen so schnell auf das Smartphone zu holen.

Sie sprechen da das digitale Österreichhaus an, wo auch Sendungen mit Sportlern und Sponsoren gezeigt wurden …
Da haben sich die Nutzungszahlen in wenigen Tagen vervielfacht. Wir wären vielleicht auch nicht so schnell auf das Bewegtbild gekommen, wenn es das Österreichhaus gegeben hätte. Auch wenn Paris unter normalen Umständen mit einem Österreichhaus stattfinden kann, werden wir weiter hybrid arbeiten und nicht darauf verzichten, die Botschaften über unsere Kanäle sofort nach Österreich zu übermitteln. Wir haben da sehr viel dazugelernt.

Wie sehr hat sich der Sport in den vergangenen Jahren entwickelt?
Die Leistungsdichte wird seit 20 Jahren von Mal zu Mal immer höher. Auch, weil das internationale Komitee aktiv in den Kontinenten Entwicklungshilfe geleistet hat, die nicht so stark vertreten waren und bis Peking 2008 haben die Chinesen ihre Behinderten versteckt. Sir Philip Lee Craven hat eine Pionierleistung in der Gleichstellung vollbracht, als er die gemeinsame Bewerbung und Austragung durchgesetzt hat. Es kann sich keiner mehr für Olympia bewerben, ohne auch die Paralympischen Spiele auszutragen. Damit kamen auch die Professionalisierung und die intensive Beschäftigung in den einzelnen Ländern mit dem Behindertensport. Dadurch wurden auch die Trainingsmöglichkeiten besser.

Sie haben einst initiiert, dass die Bundeshymne umgeschrieben wird und sie haben selbst eine erblindete Tochter. Was bedeutet für Sie das Wort Gleichstellung?
Die gleichen Chancen und Möglichkeiten zu haben, wie jeder andere Mensch auch. Jeder Mensch hat seine besonderen Fähigkeiten und auch Defizite. Ich sage immer: "Jeder von uns hat seine eigene Behinderung." Und, wenn es nur das Workaholic sein ist. Auch das ist eine Behinderung, wenn ich mich nur auf die Arbeit stürze und nichts anderes sehe.

Was wollen Sie am Ende ihrer Amtszeit erreicht haben?
Dass wir die Gleichstellung erreicht haben. Wenn es in der Öffentlichkeit denselben Stellenwert hat wie der olympische Sport, der ORF auch gleichermaßen überträgt und die Zeitungsseiten gleichermaßen voll sind. Die Sportler sollen nicht aufgrund der Behinderung und ihrer Schicksale Helden sein, sondern wegen ihrer Leistung. Und die sind großartig.

Warum sind die Medien so wichtig?
Es ist wichtig, dass für die Menschen den Behindertensport sichtbar ist. Dass die Menschen sehen, dass eine Behinderung nicht das Ende ist. Es gibt nicht viele, die nach einem Unfall aufgewacht sind, ihre Beine nicht mehr bewegen konnten und nicht gedacht haben: Das Leben hat keinen Sinn mehr. Jeder von uns kann morgen im Rollstuhl sitzen, eine Hand oder ein Bein verlieren. Man kann noch so gut mit dem Auto fahren – ein anderer fährt einem hinein und schon ist es passiert. Dann sollen die Leute wissen, das ist nicht das Ende und da gibt es noch sehr viel Schönes im Leben. Für viele, die an diesem Punkt waren, war der Sport eine Motivation, ins Leben zurückzufinden und zu zeigen: Ich kann was. 

In drei Jahren ist Paris. An welchen Stellschrauben wird das ÖPC als nächstes drehen?
Tokio hat gezeigt, dass sich der paralympische Sport in den letzten fünf Jahren in den Bereichen Trainingsmethodik, Material und Professionalismus wieder unglaublich weiterentwickelt hat. Mit der Spitzensportförderung durch die Bundes-Sport GmbH, der Aufnahme unserer Sportler in den Heeressport oder der Betreuung in den Olympiazentren gibt es bereits sehr gute Instrumente. Um zukunftsfähig zu bleiben, brauchen wir mehr hauptamtliche Trainer und Zugang zu allen Trainingsstätten.

Wie kann man behinderte Kinder bei all den Schwierigkeiten des Alltags noch zum Sport motivieren?
Sport muss Freude machen. Kinder machen nur Dinge, die ihnen Freude bereiten. Gusto kann man ihnen schon machen, indem sie alles ausprobieren dürfen. Wichtig ist aber, es den behinderten Kindern zu zeigen, dass es den Sport überhaupt gibt. Darum machen wir auch die Talent-Days, wo die Kinder den Sport ausprobieren können. Das Schlimmste, was man tun kann, ist, die Kinder vom Turnen befreien zu lassen. Sie sollen mit allen zusammen turnen und gemeinsam Freude haben.