"Als ich meine Karriere begonnen habe, war ein ganz großes Ziel von mir, nie abzusteigen", sagt Martin Fraisl. Dieses Ziel könnte sich für den 27-jährigen Torhüter in dieser Saison gleich zweimal zerschlagen. Sein aktueller Klub ADO Den Haag ist Tabellenletzter der niederländischen Eredivisie, und auch der SV Sandhausen, wo Fraisl bis zu seiner Suspendierung und anschließenden Vertragsauflösung im Dezember 2020 unter Vertrag gestanden war, kämpft in der 2. Deutschen Bundesliga um den Abstieg.

Ein "Kabinen-Skandal" soll Fraisl den Job in Baden-Württemberg gekostet haben. Die Werte Sandhausens soll der Niederösterreicher "mit den Füßen getreten" haben, die Sache sei "kurz vor einem körperlichen Angriff" gestanden - so zitierte ein Regionalmedium den Klub-Präsidenten Jürgen Machmeier. "Blödsinn", wie Fraisl meint. "Ich stehe mitten im Leben, bin Familienvater und weiß, was ich tun darf und was nicht. Weder bin ich gewaltbereit, noch bin ich dumm. Was ich darf, ist meine Meinung sagen. Um die wurde ich gefragt, ich habe sie ehrlich kundgetan und der Trainer hat sie nicht so gerne gehört."

Fraisl spielt sich in der Eredivisie in die Auslage

Für den Torhüter sollte sich die Suspendierung als Glücksfall herausstellen. Ende Jänner 2021 heuerte Fraisl bei Den Haag an, wurde an der Nordsee aufgrund seiner "Ledertyp-Mentalität" innerhalb kürzester Zeit in den Mannschaftsrat gewählt und durfte "die Störche" gegen Ajax Amsterdam sogar als Kapitän aufs Feld führen. In seinem zweiten Spiel stellte der Torhüter, der mit seiner Frau und seiner einjährigen Tochter direkt am Strand lebt, einen Liga-Saisonrekord auf, parierte zwölf Schüsse auf sein Tor und sicherte ADO beim 2:2 gegen PSV Eindhoven einen Punkt.

Die sportlich prekäre Situation des Klubs ändert nichts daran, dass sich Fraisl in den Niederlanden in die Auslage gespielt hat. "Bei meinem Wechsel habe ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht", meint Fraisl. "Aber ich wollte die Plattform Eredivisie nutzen, weil es eine Riesenchance ist, mit guten Leistungen einen neuen Markt aufzumachen." Diese Chance hat er genutzt. Drei holländische Top-Klubs sollen laut eigenen Angaben bereits bei Fraisl, dessen Kurz-Vertrag im Sommer ausläuft, angeklopft haben.

Mit 30 Jahren Nationalteam-Torhüter

Es wäre der nächste Schritt zu Fraisls Ziel, spätestens mit 30 Jahren regelmäßig Teil der österreichischen Nationalmannschaft zu sein. Angesprochen darauf meint er: "Sicher ist das ein realistisches Ziel. Wenn du bei einem holländischen Top-Klub spielst, stehst du in den Niederlanden automatisch im Nationalteam. Daher sollte das bei Österreich nicht viel anders sein. Nach Daniel Bachmann (Steigt mit Watford in die Premier League auf, Anm.) wäre ich nächste Saison dann der Torhüter, der in der besten Liga spielt."

Auf die diesjährige Europameisterschaft macht sich der 27-Jährige, der zuletzt im Herbst 2020 im ÖFB-Team auf Abruf gestanden war, keine Hoffnungen. Obwohl sich Teamchef Franco Foda öffentlich weiterhin nicht klar auf eine Nummer eins festlegt. "Das ist eine Philosophiefrage", meint Fraisl, der Foda durchaus verstehen kann. "Wir haben sehr viele Torhüter auf einem ähnlichen Niveau. Für Torleute wie mich, die immer eher hinten dran waren, ist diese Ungewissheit natürlich eher ein Vorteil. Wenn man sich aber als Nummer eins sieht und die letzten Spiele gespielt hat, ist es ein Nachteil, weil man nicht gestützt wird und somit medial das Thema immer aufkommt."

Fraisl: "Busfahrer kann dir Gegenpressing erklären"

Im direkten Duell in der EM-Gruppenphase sieht Fraisl "Oranje" als Favorit. "Fußball ist einfach eine Religion da", meint der Torhüter, während er mit seinem Hund durch Den Haag schlendert. "Mir winkt jetzt schon der Fünfte zu, während wir telefonieren. Du kannst hier gefühlt mit jedem über Fußball diskutieren, und wenn du mit dem Busfahrer redest, kann er dir Gegenpressing erklären." Das EM-Fieber ist demnach ungleich höher als aktuell in Österreich. "Die Medien bestimmen die Stimmung im Land, sind dafür ein Stück weit verantwortlich. Auf der anderen Seite waren auch die letzten Leistungen nicht so gut, als dass man sich massiv auf die EM freuen könnte."

Geht Fraisls Karriereplan auf, könnte bei der nächsten EM er das rot-weiß-rote Tor hüten. Und das noch etliche Jahre, will er doch bis 42 auf höchstem Niveau spielen. "Ich habe meine Profi-Karriere extrem spät (Zweitliga-Debüt bei Wiener Neustadt im Juli 2015, Anm.) angefangen, also muss ich sie nach hinten hinauszögern, um auf die gleiche Anzahl schöner Momente zu kommen, wie Spieler, die schon mit 18 Profi waren. Außerdem bin ich sehr fit", sagt Fraisl, der am 10. Mai seinen 28. Geburtstag feiert.

Bevor es aber zu diesen schönen Momenten kommt, wird Fraisl wohl noch einen Tiefpunkt mitnehmen. Fünf Punkte trennt Den Haag drei Spieltage vor Schluss vom Relegationsplatz, schon am Sonntag könnte der Abstieg fixierte Sache sein. Zuletzt konnte man mit einem 3:2-Sieg gegen Feyenoord zumindest ein Ausrufezeichen setzen. Für Fraisl war es der erste volle Erfolg mit ADO nach zuvor elf sieglosen Spielen. "Die Wahrscheinlichkeit, in der Liga zu bleiben, ist nicht sehr hoch, aber im Fußball sind schon viele Wunder passiert", weiß auch Fraisl. "Wenige Wochen, nachdem ich hier unterschrieben habe, wurde der Verein von einem Amerikaner gekauft, der verlautbart hat, dass der Abstieg aber überhaupt kein Problem wäre, sondern eine Chance ist, alles von Grund auf neu zu strukturieren. Dahingehend ist die Anspannung auch überschaubar groß." Auf den Abstiegs-Doppelpack möchte Fraisl aber verzichten, Sandhausen liegt aktuell einen Punkt vor dem Relegationsplatz. "Sie werden es schaffen."