Irgendwann stellt sich die Frage nach den Prioritäten, denn diese verschieben sich. In weiterer Folge wird der (meist vergebliche) Versuch unternommen, dem Sinn des Erlebens auf die Schliche zu kommen.  Schließlich stellt sich dem Suchenden das Warum in den Weg, vor allem dann, wenn plötzlich das nicht Fass-, nicht Begreifbare konkrete Bedeutung erhält und sich dennoch als undefinierbare Größe auftürmt.

Das Leben schreitet voran, alles ist dem Fortschritt unterworfen, so bestimmen es die Richtlinien der sogenannten modernen Zivilisation, seit die Arbeit den Rhythmus vorgibt. Kein Mensch mit Überlebensdrang kann sich in unserer Gesellschaft diesem Prinzip entziehen. Das galt auch für Didi Constantini, der 2009 auf dem Höhepunkt seines Berufslebens angelangt war, als der Tiroler als neuer Trainer der österreichischen Fußball-Nationalmannschaft präsentiert wurde, und in dieser Rolle zwangsläufig zu einer zentralen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens aufstieg.  

Bruchlinien

Aber jedem Fortschreiten sind Grenzen gesetzt, natürliche ebenso wie künstliche, und im Falle von Constantini bauten sich diese Schranken unvermittelt auf, es kam zu einem plötzlichen (scheinbaren) Stillstand. Am 13. September 2011 gab der damals 56-Jährige seinen Rücktritt vom sportlich bedeutendsten Amt im Lande bekannt, das Datum erscheint rückwirkend wie eine erste Bruchlinie. In jenem Moment hat sich alles verschoben.

Die Tochter Johanna Constantini stellt in einem bewegenden, aufwühlend-einfühlsamen Buch den gewaltigen Einschnitt im Leben ihres Vaters dar, ausgehend von der zweiten Bruchlinie, einem auf ein Wendemanöver zurückzuführenden Geisterfahrer-Unfall, der letztlich in die unumkehrbare Diagnose Alzheimer mündete.

"Abseits", von Johanna Constantini, erschienen im Seifert Verlag

Sie beschreibt auf intensiv-persönliche Weise das Erlebte, klappt die gesamte, völlig aus den herkömmlichen Rahmen gekippte Gefühlswelt nach außen. Der Blick gleitet immer wieder zurück in eine wunderbare Kindheit mit dem Vater, der die Familie über alles stellte, auch über den Fußball, dem er sein ganzes Leben widmete. So erzählt sie, wie der "Papa" mit seinen beiden Töchtern während live übertragenen Auftritten über "geheime Zeichen"  kommunizierte. Im Bewusstsein, die Zeit nicht aufhalten zu können, verdichten sich die Bilder der Erinnerung, während die Gegenwart vor den Augen verschwimmt mit den Momenten, in denen sie von der Präsenz der Demenz eingeholt wird.

Johanna, im Beruf klinische Psychologin, gab dem Buch den Titel "Abseits", um einerseits den Fußball in den Fokus zu rücken, andererseits aber mit der Intention, das Gegenteil bewirken zu wollen. Der Vater, dem in den Jahrzehnten zuvor durchwegs positiv besetzte Rollenbilder wie jenem des "Sunnyboys" mit Tiroler Charme zugeschrieben worden waren,  hatte sich nach dem Abgang immer stärker zurückgezogen. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, war besitzergreifend. "Alle rufen dich an, plötzlich meldet sich niemand mehr".

Intensive Einblicke

Die Seiten geben nicht nur Einblicke in die Verwirrungen, die unausweichlichen Tatsachen und die Lebensgeschichte, sie überlassen dem Leser auch viele offene Fragen. Und bei jedem Umblättern schwingen sie mit, die Erschütterungen, die das Beben innerhalb der Familie auslöste. Auch die Reaktionen der Umwelt, die Anteilnahme ebenso wie der schamlose Voyeurismus, bleiben nicht ausgespart. Die Autorin beschreibt zum Teil unfassbare Vorgänge nach dem Unfall, aber sie bewahrt stets die Contenance und vermeidet jegliche Anklage.

Die Jugend war und ist Didi Constantini stets ein Anliegen, das zeigen nicht nur die nach wie vor bestehenden Nachwuchscamps. Auch dass der ehemalige Teamchef etliche österreichische Topkicker wie etwa David Alaba oder Aleksandar Dragovic für die Nationalmannschaft entdeckte, ist vielleicht hie und da schon in - kollektive - Vergessenheit geraten. In den Rückblicken liefert die Tochter Beispiele für die Prinzipien, die das Handeln ihres Vaters bestimm(t)en, geschuldet der Demut und Bescheidenheit. Einmal habe er für einen Fußballer Spenden gesammelt, um das Begräbnis dessen Vaters zu finanzieren.

Solche Taten wirken heute, vor allem im Zusammenhang mit der auch von Gier bestimmten Welt des Fußballs, wie aus der Zeit gefallen, so wie Menschen mit Demenz auch sukzessive herausfallen aus der Zeit. Das Hinaus- und Mitgehen jedoch hilft, den Prozess zu verlangsamen. Didi Constantini hat seinen Rückzug gestoppt, er nimmt wieder teil am Leben, so gut es eben geht.

Aufhalten lässt sich das Schicksal nicht. "Die Krankheit schreitet voran", sagt Johanna. Es gebe "gute und schlechtere Tage". Die Familie bietet Halt im schwieriger werdenden Alltag, dazu gehört auch ein Enkelkind, denn die Autorin ist mittlerweile selbst Mutter einer Tochter. 

Starke Resonanz

Das im Herbst erschienene Buch sei "sehr positiv" aufgenommen worden. Es gab schon viele Rückmeldungen von Menschen, die wieder nach draußen gehen, nicht nur solche mit Demenz. Der Papa habe die Offensive, mit einem Buch an die Öffentlichkeit zu gehen, unterstützt. "Die verrückte Familie" war sein Titelvorschlag, der Schmäh ist Didi Constantini nicht abhandengekommen.