Vorab analysiert DAZN-Experte und FCM-Traiskirchen-Trainer Oliver Lederer – einst aktiver Kicker für Rapid und Bundesliga-Trainer bei Admira Wacker – das Duell der beiden englischen Spitzenteams. Was macht die beiden Ausnahme-Trainer Jürgen Klopp und Mauricio Pochettino so besonders? Wie kann Tottenham die Reds überraschen? Und wie schwer wiegt der psychologische Faktor? Im SPOX-Interview gibt der 41-Jährige Einblicke in das Spiel des Jahres.

Nach den Halbfinal-Hinspielen hatten ein Finale zwischen Liverpool und Tottenham nur wenige auf dem Zettel. Ging es Ihnen ähnlich?

Oliver Lederer: Wie für viele ist die Konstellation Liverpool gegen Tottenham nach dem Halbfinal-Hinspiel eine große Überraschung. Sowohl Ajax als auch Barcelona waren in einer sehr guten Ausgangsposition. Dass es mit dieser Dramatik dann so ausging, war für den Fußball positiv – so viel wurde über unseren Sport schon lange nicht mehr gesprochen. Das waren prägende Ereignisse für den Gesamt-Fußball. Und beide Mannschaften haben die Finalteilnahme schließlich verdient.

Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen Ajax‘ Ausscheiden geschmerzt hat – Ihre Spielphilosophie ist von allen vier Halbfinalisten den Niederländern am nächsten…

Lederer: Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit hat mich das Ausscheiden einer Mannschaft genervt. Das hatten sie einfach nicht verdient. Ajax hat so eine beeindruckende Champions-League-Saison absolviert, die wirklich ganz Europa begeistert hat. Nichtsdestotrotz muss man Tottenhams Leistung hervorheben – wenn man gegen Manchester City und Ajax das Ergebnis so umdrehen kann, hat man sich das Finale verdient.

Wir haben das Duell zwischen Liverpool und Tottenham in der laufenden Saison zweimal gesehen. Zweimal hat Liverpool knapp mit 2:1 gewonnen. In der zweiten Partie durch ein spätes Eigentor von Toby Alderweireld in der Nachspielzeit. Spiegelt das die Chancenverteilung und Machtverhältnisse wieder?

Lederer: Wenn ich im Vorfeld die Favoritenrolle verteilen müsste, würde das Pendel Richtung Liverpool ausschlagen. Sie haben nicht nur in der Meisterschaft mit einem Punkterekord Platz zwei geholt, sondern auch in der Champions League beeindruckende Leistungen gezeigt. Sie haben Bayern München ohne mit der Wimper zu zucken ausgeschaltet und waren auch gegen Barcelona im Hinspiel in Spanien richtig stark – das 0:3 hat die tatsächliche Leistung nicht gut widergespiegelt. Wie sie das Spiel dann gedreht haben, hat gezeigt, dass hier eine besondere Mannschaft mit einem besonderen Trainer am Werk ist.

Tottenham gelingt es dennoch regelmäßig, sich optimal auf Gegner einzustellen, hier liegen Pochettinos enorme Fähigkeiten. Und was für mich zudem ein interessanter Faktor ist: Beide Trainer haben viel Zeit, ihre Mannschaften auf das Spiel vorzubereiten. Diese Möglichkeit hat man im Fußball als Coach nur sehr selten. Vielleicht sehen wir die ein oder andere Überraschung. Von Liverpool weiß man in der Regel, was man bekommt. Ich halte es aber für möglich, dass Tottenham die Reds überraschen kann.

Die Duelle zwischen Liverpool und Tottenham sind immer enorm intensiv. Beide Mannschaften legen großen Fokus auf Pressing und direktes Spiel und in der Spielweise scheinen sie sich gegenseitig nicht zu liegen. Stimmt diese Einschätzung?

Lederer: Beide Trainer sind sehr gut darin, die Stärken des Gegners zu orten und anschließend zu neutralisieren. Das sieht man sowohl bei Klopp, als auch bei Pochettino. Tottenham ist zudem enorm variabel. Ich habe das Gefühl, dass Tottenham in keinem Bereich wirklich top ist – aber sie können alles: Kontern, Pressing aushebeln und gegen tiefstehende Mannschaften agieren. All das können sie überdurchschnittlich gut. Darum glaube ich, dass Tottenham nicht nur für Liverpool unangenehm ist, sondern für jede andere Mannschaft. Eigentlich ist es für jeden Gegner unattraktiv gegen Tottenham zu spielen.

Hat Liverpool beim Rückspiel gegen Barca auch ein wenig von Salahs Ausfall profitiert? Von rechts wurde weniger nach innen gezogen, das Schussvolumen war geringer und Zielspieler Origi wurde stattdessen von der Grundlinie bedient.

Lederer: Divock Origi war ein Game-Changer, das muss man schon so sagen. Er hat Pique, der eine überragende Saison gespielt hat, vor große Probleme gestellt. Ob Salahs Ausfall ein Vorteil war, kann man so schwer sagen, aber auf jeden Fall hat Liverpools Spiel dadurch einen ganz anderen Charakter bekommen. Beim Finale wird man aber wieder auf ihn zurückgreifen.

Wer sind für Sie die Schlüsselspieler fürs Finale?

Lederer: Die große Frage ist für mich, ob Harry Kane fit wird. Er ist für mich einer der besten Stürmer in Europa, der selbst vorbereiten kann, für Flanken empfänglich ist und einer der besten Vollstrecker ist. Um seine Person wird noch länger geblufft werden. Liverpool hat vorne seine magischen Drei, bei denen du zwar weißt, was auf dich zukommt – das heißt aber noch lange nicht, dass du es auch verteidigen kannst. Mit Firmino, Mane und Salah ist Liverpool unfassbar gut. Und das auch im Spiel gegen den Ball – da vernachlässigt niemand die Pressingstrategie.

Wie hoch haben Sie Sadio Manes Potenzial eingeschätzt, als er zwischen 2012 und 2014 bei Red Bull Salzburg gekickt hat?

Lederer: Vielleicht hätte ich ihn nicht unbedingt als Torschützenkönig der Premier League gesehen, aber es war schon damals klar, dass er außergewöhnlich ist. Und er war neben fantastischen Spielern wie Soriano oder Kampl sogar der auffälligste Akteur.

Jürgen Klopp und Mauricio Pochettino zählen zu den Toptrainern im Weltfußball. Welche Attribute können Sie sich als Trainer abschauen?

Lederer: Von beiden das gleiche: Beide haben die Fähigkeit, Menschen, Spieler und das ganze Stadion für eine Idee zu begeistern. Die Leadership-Qualitäten von Klopp und Pochettino werden trotz allem noch immer unterschätzt und da würde ich mir gerne etwas abschauen können.

Wie hoch ist Pochettinos Leistung einzuschätzen? Er hat zwar eine gute Mannschaft, durfte aber keinen Cent für neue Spieler ausgeben.

Lederer: Die Leistung, die er gebracht hat, ist außergewöhnlich. Dass er keine Spieler holen konnte, könnte aber nicht der große Nachteil, sondern sein großer Vorteil gewesen sein. Darum sage ich nicht „trotz“, sondern „gerade deswegen“. Pochettino wurde zu Kontinuität gezwungen, er musste auf seine Spieler bauen und konnte ein Konstrukt, das ohnehin miteinander verwachsen war, noch enger zusammenschweißen. Der ganz große Wurf steht aber noch aus und ich sehe Liverpool am Samstag in der Favoritenrolle.

Wie bewerten Sie den psychologischen Faktor? Liverpool hat vergangene Saison das Endspiel verloren, eine erneute Finalniederlage wäre fatal, gerade nach dem schmerzhaften Verpassen der Meisterschaft.

Lederer: Liverpool wird darin eine Chance sehen. Wenn du so knapp dran warst, bringst du beim nächsten Mal nicht nur die Erfahrung aus dem Vorjahr mit, sondern auch noch mehr Gier. Darum würde ich Liverpool psychologisch fast sogar im Vorteil sehen. Vor zwei Wochen hat man Klopp schon fast abgeschrieben – da war er plötzlich ein guter Trainer, der aber keine Titel holt. In der Woche darauf hat er den FC Barcelona aus der Champions League bugsiert und ist in der Meisterschaft noch einmal ganz knapp an Manchester City herangekommen. Deswegen würde ich ihm den Erfolg gönnen. Und wenn er den Pott nicht holt, ist das bisher geleistete auch nicht weniger wert.

Jürgen Klopp hat seine letzten sechs Finalspiele verloren. Er wirkt dennoch relativ druckbefreit, zumindest nach außen.

Lederer: Ich habe das Gefühl, dass er von diesem Zwang, Titel holen zu müssen, sehr gelöst ist und das nicht auf seine Mannschaft überträgt. Während und nach der 0:3-Niederlage in Barcelona wirkte er immer ruhig, konnte sich ab und an sogar ein Lächeln entlocken und hat von einer super Leistung seiner Mannschaft gesprochen. Er hat seine Zuversicht nie verloren und deshalb glaube ich auch, dass Liverpool das kleine Wunder geschafft hat. Der Druck der verlorenen Finalspiele wird in der Vorbereitung seiner Mannschaft keine Rolle spielen.

Zwar haben sich Liverpool und Tottenham ins Finale gerettet, die englische Dominanz ist aber erstaunlich. Auch Arsenal und Chelsea standen im Europa-League-Finale. Ist das ein Vorgeschmack auf die nächsten Jahre?

Lederer: Die Anzahl englischer Spieler hält sich in Grenzen und einen englischen Trainer sehen wir im Finale ebenfalls nicht. Wir reden tatsächlich davon, dass die Premier League mit ihren finanziellen Möglichkeiten aktuell über dem Rest steht. Der englische Fußball profitiert zwar von den tollen Trainer-Legionären und wird im Windschatten mitwachsen, aber England darf sich nicht von der Qualität der Legionäre blenden lassen. Man darf den eigenen Nachwuchs nicht zu kurz kommen lassen.

Darf ich Sie um einen Finaltipp bitten?

Lederer: Ich glaube, dass Liverpool auch das dritte Duell dieser Saison mit 2:1 gewinnt und hoffe, dass Sadio Mane in seiner Rolle als Torjäger dem Spiel auch einen kleinen österreichischen Touch gibt. (lacht)

Wie geht es mit Ihnen persönlich weiter? Wird man Sie auch nächste Saison in Traiskirchen sehen?

Lederer: Ich bin zu 99 Prozent auch in der nächsten Saison in Traiskirchen. Meine vertragliche Situation ist immer gleich: Wenn eine interessante Aufgabe kommt, wird mir mein Verein keine Steine in den Weg legen. Ich habe mich aber ein wenig von diesem Gedanken entfernt. Ich bin mit der Aufgabe in Traiskirchen sehr glücklich, mir wird alles ermöglicht und ich habe mit DAZN eine interessante Aufgabe nebenbei, die ich als sehr erfüllend betrachte. In Traiskirchen habe ich das Versprechen eingelöst, das Budget deutlich günstiger zu gestalten und den Altersschnitt um drei Jahre gesenkt. Wir versuchen zu entwickeln und den Nachwuchs zu fördern, für den ich auch verantwortlich bin. Wir wollen Talenten eine Plattform bieten, die es vielleicht in der Akademie großer Vereine nicht geschafft haben und dem ein oder anderen Spieler die Möglichkeit bieten, über die Regionalliga Ost den Sprung in die Bundesliga zu schaffen. Natürlich, ich strebe auch nach Höherem, aber ich mache mein Glück nicht davon abhängig, ob ich Trainer in der Bundesliga oder in der Regionalliga bin. Ich sehe in beiden Aufgaben Interessantes.