Sein Gesicht ist wasserfest über zehn Stockwerke auf die Hauswand eines Hochhauses Neapels gemalt, Poster von ihm hängen in Restaurants, Bars und Geschäften, mit seinem Namen werden die unterschiedlichsten Artikel in den Schaufenstern beworben. Das ist kein Rückblick auf das Ende der 80er-Jahre, als Diego Armando Maradona mit dem SSC Napoli zwei Mal den Meistertitel der Serie A holte. Dieses Bild zeigt sich 2020, wenn man durch die Straßen Neapels spaziert.

„Für uns Neapolitaner ist er ein Gott. Auch heute noch, 30 Jahre später. Fußball ist das, woran alle in Neapel zu jeder Tageszeit denken. Maradona kam, spielte seinen Fußball und gab der Stadt dadurch ein neues Leben,“ sagt Domenico Monaco, selbst Neapolitaner und eingefleischter Fan des SSC Napoli. Fußball sei den Einwohnern immer schon enorm wichtig gewesen. Vor allem in den 80er Jahren lebten sie nur für den Sonntag, wenn "I Partenopei", wie die neapolitanische Mannschaft auch genannt wird, spielten.

© imago/ZUMA Press

Diego und Maradona

In den Jahren 2017 und 2018 malte der neapolitanische Streetart-Künstler Jorit Ciro Cerullo das zehn Stockwerke hohe Bild "Diego". „Die Figur von Maradona präsentiert immer eine doppelte Interpretation zwischen Genie und Wahnsinn, Disziplin und List, Kreativität und Täuschung, aber genau dort liegt das, was ihn großartig gemacht hat: seine Menschlichkeit. Seine starke und widersprüchliche Persönlichkeit macht ihn zum Gegenstand der Bewunderung in Neapel und der Kritik anderswo", erklärt Salvatore Pope Velotti, Entwicklungsleiter des INWARD Observatory on Urban Creativity.

Das Kunstwerk im Osten der Stadt liegt, vom Stadion aus betrachtet, genau auf der anderen Seite Neapels. Das Bild soll an Diego erinnern, während das Stadion San Paolo die unauslöschliche Erinnerung an Maradona beherbergt. Sein Personal Trainer beschrieb es genauso: "Wenn er trainiert, ist er einer der liebsten Menschen überhaupt. Dann ist er Diego. Aber sobald er auf dem Platz und in der Öffentlichkeit steht, ist er ein anderer Mensch. Dann ist er Maradona."

60 Jahre Maradona

Geboren in Villa Fiorito, einem Elendsviertel am Stadtrand von Buenos Aires, oft ohne fließendes Wasser oder Kanalisation, wächst Diego Armando Maradona mit seinen Eltern und Geschwistern auf. Als erster Sohn nach vier Töchtern wird er zum Liebling seiner Mutter. Bereits als kleines Kind interessiert ihn nur der Fußball. Mit elf kommt er in einen Verein und seine Karriere beginnt. „Ab 15 hatte er kein eigenes Leben mehr. Er hat sich um alles gekümmert. Er zahlte einen hohen Preis für den Ruhm", sagt eine seiner Schwestern.

Am 30. Oktober wird Maradona 60 Jahre alt. Er blickt auf ein Leben voller Höhen und Tiefen zurück. Weltmeistertitel, UEFA-Cup-Sieger, Alleinversorger der gesamten Familie mit 15 Jahren. Drogenmissbrauch, Kontakte zur Mafia, ein uneheliches Kind, das er erst Jahre später als sein eigenes anerkennt.

Sein Neapel

Er war 23 Jahre alt, als er am 5. Juli 1984 wie ein Gladiator das Stadion San Paolo in Neapel betrat. Strotzend vor Selbstbewusstsein und doch wirkte er gleichzeitig fast noch verlegen. Der liebe Diego und der kämpferische Maradona.

Auf die Frage: "Was sagst du, wenn man dich den neuen Pelé nennt?" reagierte er verlegen. "Ich bin kein neuer Irgendwas. Ich will einfach nur Maradona sein."

Nach dem italienischen Meistertitel 86/87 gab es kein Halten mehr. Neapel liebte Maradona, er wurde zum Helden der Stadt. An der Friedhofsmauer hing nach dem Sieg ein Banner: „Sie wissen nicht, was sie verpasst haben.“ Bei einer Routineuntersuchung wurde ihm Blut abgenommen. Die Krankenschwester brachte dieses Blut in die Kirche San Gennaro. „Als wäre ich ein Heiliger“, sagte Maradona. Er konnte nicht mehr ins Theater, einkaufen gehen oder allein auf die Straße. Ständig wurde er von Fans belagert.

Vom Heiligen und Geächteten

Bei der WM 1990 machte der italienische Fußballverband einen gravierenden Fehler. Im Halbfinale standen sich Italien und Argentinien in Neapel, in seinem Stadion, auf dem Feld gegenüber. Maradona schoss den entscheidenden Elfmeter. In dem Stadion, in dem er Gott war. Das war die Entscheidung, die er treffen musste: Sieg um jeden Preis und dadurch in die Hölle. Oder der Held, der Gott der Neapolitaner bleiben. Er machte das Tor, Argentinien gewann und Italien hatte ein neues Hassobjekt: Diego Armando Maradona.

Bei einer Umfrage, wer die meistgehasste Person Italiens sei - auf der Liste standen u.a. auch Politiker und Diktatoren - landete Maradona auf Platz 1. Er blieb noch bis 1991 in Neapel. Keiner hielt mehr die Angriffe der Presse, die Steuerbehörden und die Justiz von ihm ab. Bei einer Dopingkontrolle, der ersten, die er je machen musste, fand man Spuren von Kokain. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde bei den Kontrollen regelmäßig getrickst, indem der Urin anderer unter seinem Namen untersucht wurde. „Als ich ankam, hatten mich 85.000 Menschen begrüßt. Als ich ging, war ich alleine", sagte Maradona.

Der Argentinier brachte viele Neapolitaner dazu, zu Argentinien und nicht zu Italien zu halten. Die Kluft zwischen Nord- und Süditalien bestand von jeher. Sprüche wie „Selbst die Hunde rennen weg, kommt ein Neapolitaner um das Eck“ und „Lavatevi – wascht euch“, brachten die Fans norditalienischer Vereine mit in die Stadien. Maradona setzte bewusst auf diese Diskrepanz.

Mythos, Held, Gott

Knapp 30 Jahre ist das nun her, sein Mythos bleibt bestehen. "So viele Neapolitaner haben bei der WM 1990 für Argentinien gejubelt. Noch heute denken alle an das, was er für den S.S.C. Napoli getan hat. Er bleibt unser großer Held", meint Monaco.

Heute ist Maradona Trainer bei Gimnasia y Esgrima La Plata. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde die Saison auf Geheiß des argentinischen Fußballverbandes abgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt stand der Verein auf dem 19. von 24 Plätzen. Maradona verlängerte seinen Vertrag bis zum Ende der Saison 2020/21.

Einst ein kleiner Junge, der kein fließendes Wasser, aber einen Fußball hatte, wurde Maradona zum besten Fußballspieler der Welt. Nach einem Drogenentzug arbeitete er sich noch einmal zum Trainer der argentinischen Nationalmannschaft hinauf, heute ist er Trainer des zum Zeitpunkt seines Antritts Tabellenletzten der argentinischen Primera División. Fünf Plätze haben sie sich bis zum Ausbruch der Pandemie nach oben gekickt.

Andrew Murray schrieb im FourFourTwo Magazin im Juli 2017 über Maradonas Sieg bei der Wahl zum besten Spieler aller Zeiten: „Pelé hat mehr Tore geschossen, Lionel Messi mehr Titel gewonnen. Beide hatten ein stabileres Privatleben als der übergewichtige, vormals kokainabhängige Maradona, der diese Liste anführt und dessen Beziehung zum Fußball zunehmend belastet war, je länger seine Karriere andauerte. Aber wenn man Diego Maradona mit einem Ball am Fuß gesehen hat, dann versteht man.

Blickt man auf die 60 Jahre Maradona zurück, stellt man fest, dass seine Entscheidungen nicht immer die richtigen waren. Dennoch steht für Napoli-Fan Domenico Monaco fest: „Für manche bleibt er der Größte. Immer. Egal, wie klein sein Dasein wirken mag, und welche Tiefs er auch erlebt hat.“