1. Was war diese Euro nun wirklich: Die Rückkehr in die Normalität oder „Business as usual“?

Valerie Fritsch: Ich hatte das Gefühl, es war ein Herantasten an das Normale, noch voll mit Störgeräuschen und ungewöhnlichen Bildern, aber auch eine Befreiung, sich wieder mit Fußball statt Corona beschäftigen zu dürfen

Franzobel: Sieben Verlängerungen, elf Eigentore, jede Menge Überraschungen, fast nur spannende Spiele. Die Euro hat Corona vergessen lassen, ob uns die Pandemie wieder daran erinnert, wird sich zeigen.

Egyd Gstättner: Rückkehr in die Normalität wäre ja business as usual. Die halbleeren Stadien sprachen dagegen. Die vollen dafür.

2. Rein fußballerisch gesprochen: Was hat bei dieser Euro am meisten beeindruckt?

Fritsch: Die Hartnäckigkeit und Widerstandsfähigkeit der Dänen, aber auch die Kroaten, die gegen Spanien Kraftakte gegen Zeit und Wahrscheinlichkeit geliefert haben, auch wenn es nicht gereicht hat.

Franzobel: Die Standardsituationen der Dänen. Haufenbildung bei Eckbällen, Mauer bei Freistößen, um dem gegnerischen Tormann die Sicht zu nehmen … Da kann sich Österreich einiges abschauen.

Gstättner: Es gibt keine Fehler und keine Räume mehr, ganz wie im richtigen Leben. Der Fußball ist perfekt und dementsprechend langweilig geworden. Man wartet 90 oder 120 Minuten auf den Zufall, der das Endresultat ergibt.

3. Und rein menschlich, ganz ohne Fußball: Was bleibt in Erinnerung?

Fritsch: Die Minuten, die einen unfreiwillig zum Zuschauer von Leben und Tod gemacht haben, als Christian Eriksen zusammenbrach, das beherzte Eingreifen, aber auch die große Verzweiflung der Mitspieler, der sofortige, kollektive Verschiebung aller Wichtigkeiten.

Franzobel: Die Tränen meiner Freundin beim Ausscheiden Österreichs, obwohl sie Deutsche ist.

Gstättner: Der Fast-Tod Christian Eriksons natürlich. Mir ist dasselbe passiert, fast genauso jung, auf einer Leserreise, nur ohne Kameras und die Augen und Medien der Welt. Ich weiß, was auf ihn zukommt und dass Eriksons Leben irreparabel verbogen ist. Jetzt krampfhaft ein Märchen daraus machen zu wollen, finde ich dummdreist und abgeschmackt.

4. Inwieweit habt ihr die Möglichkeiten zu großen Runden genützt, die neu gewonnene Freiheit zum sozialen Miteinander ausgelebt?

Fritsch: Ich habe es meist klein gehalten, saß mit meinem Bruder vor dem Fernseher oder kugelte mit meiner Nichte vor dem Bildschirm herum.

Franzobel: Ich war in Griechenland, Deutschland, der Schweiz und habe immer wieder in kleineren Gruppen zugeschaut. Das war toll.

Gstättner: Meine Freiheit war und ist und bleibt im Sinne Immanuel Kants beschränkt. Ich bin glücklich verheiratet, das ist das ideale soziale Miteinander.

5. Ganz direkt: Waren Sie auch bei einem „Public Viewing“? Wenn ja, bei welchem Spiel? Wir war es?

Fritsch: In einer Sportbar habe ich mir den Untergang Portugals gegen die Deutschland gegeben, als Portugalliebhaber zwischen deutschen, schwitzenden Studenten, es war unendlich heiß, während die Sonne einen immer noch blendete, regnete es mitunter, und in all dem Wahnsinn brauchte ich dann einen Schnaps.

Franzobel: Nein, große Menschenmassen schrecken mich ab. Außerdem nerven mich die Kommentare der vielen Teamchefs.

Gstättner: Ganz direkt: Nein, nie. Public viewing war etwas für die erste Lebenshälfte. Ich bevorzuge Private viewing mit meinem Wife, meinem Friend and meiner Cat.

6. Die Frage darf nicht ausbleiben: Das Urteil zu Österreichs Performance?

Fritsch: Ich muss gestehen: ich bin so überrascht wie beeindruckt vom Österreischen Spiel, was beides selten vorkommt.

Franzobel: Ein schlechtes, ein mittelmäßiges und zwei richtig gute Spiele. Mich hat die Mannschaft positiv überrascht, die Spieler können stolz auf sich sein. Wenn sie so weitermachen, wird das noch was.

Gstättner: Wacker und nicht unglücklich. Das Spiel gegen die Italiener war hervorragend, allerdings mussten wir es nicht machen… Aus Bachmann könnte ein großer Tormann werden.

7. Die „Bild“ titelte beim Aufstieg der Österreicher „Willkommen bei den Großen“. Sind wir jetzt im Fußball wirklich wer?

Fritsch: Wir haben nun zumindest mehr als Cordoba zu bieten.

Franzobel: Eine Großmacht werden wir nie werden, aber das Niveau von Dänemark oder der Schweiz sollte erreichbar sein. Ich bin schon zufrieden, wenn sie keinen Angsthasenfußball mehr spielen.

Gstättner: Naja. Wir waren unter den letzten 16. Bis 2012 gab es überhaupt nur 16 Teilnehmer…

8. Ihr Fazit zur EM?

Fritsch: Schnelle, gute Spiele, einige Aufregungen, ein anderer Ausnahmezustand nach dem Ausnahmezustand.

Franzobel: Alle Trainer und Spieler sprechen hinter vorgehaltener Hand, liegende Spieler bei Freistoßmauern, fragwürdige VAR-Entscheidungen, ein Wembley-Elfer, trotzdem ein tolles Fußballfest mit einem würdigen Finale.

Gstättner: Tja, wie heißt es so schön in Expertenkreisen: Das ist Fußball!

9. Gibt es irgendetwas, das man schnell vergessen will?

Fritsch: Jede Minute von langweiligem, uninspiriertem Fußball.

Franzobel: Arnautovic‘ Schimpftirade beim Torjubel. Das gefoulte Knie des Ukrainers.

Gstättner: Mein rudimentäres Quasi-Italienisch. Aber wie die Leningrad Cowboys verspreche ich: I`m working hard to become better!

10. Welcher Spieler der Euro hat sich in ihr Herz gespielt?

Fritsch: Harry Kane ist mit seinem Können heuer in meinen Brustkorb eingelaufen.

Franzobel: Pedri, Damsgaard und Spinazzola. Vor allem Pedri war für mich die Entdeckung. Wie der mit seinen achtzehn Jahren das Spiel der Spanier getaktet hat, war großartig.

Gstättner: Alle, die ich porträtiert habe, vor allem aber Jordan Pickford: Keiner hat so inbrünstig die Hymne gesungen.

11. Zum EM-Abschluss darf das sein: Und wer erhält von Ihnen „Rot“? Und warum?

Fritsch: Mit solchen Autoritarismen im Nachhinein bin ich nicht gut, und muss passen.

Franzobel: Das Publikum: Pfiffe bei Hymnen und Buhrufe bei Verletzungen, Laserpointer, etc. haben im Fußball nichts zu suchen.

Gstättner: Eine EURO, die 2021 ausgetragen wird, sollte nicht „EURO 2020“ heißen, schon aus Respekt vor all jenen, die 2020 nicht überlebt haben. Auch Sportgeschichtsschreibung sollte nicht so tun, als sei gar nichts gewesen.

12. Beim Fußball schauen: Lieber Essen? Trinken? Beides?

Fritsch: Ich neige eher zu einer Aufregungszigarette, wenn es eng wird.

Franzobel: Bier! Aber wenn Österreich spielt, kommen noch Schnaps und Tschick dazu.

Gstättner: Immer ein Nationalgericht. Heute English Breakfast (mit Toast, Eggs, Plum-Pudding!) Tarviser Jause (Prosciutto crudo, Scombri, Zwiebel, Mortadella, Käse), British Cream, Zabajone. Lambrusco. Tee mit Milch.  Und natürlich die entsprechende Adjustierung. Heute: Burberry-Hemd, Deerstalker-Kappe.

13. Gibt es einen Favoriten für Sie im heutigen Finale? Wenn ja, warum?

Fritsch: Ich habe kürzlich geträumt, dass Italien 2:1 gewinnt, aber auf Träume kann man sich bekanntlich nicht immer gut verlassen.

Franzobel: Fußballerisch sehe ich Italien im Vorteil, aber die Stimmung spricht für England.

Gstättner: Die Chancen stehen 50 : 50. Gönnen würde ich den Triumph den Briten – nach so langer Zeit…

15. Wenn die Euro nun vorbei ist – was macht man mit den freien Abenden?

Fritsch: Dass Langweile  aufkommt halte ich für ein beherrschbares Risiko, ich habe gerade begonnen einen neuen Roman zu schreiben, und schließlich gibt es einen ganzen, großen, herrlichen Sommer da draußen, den man sich einverleiben möchte.

Franzobel: Bücher lesen. Es soll ja spannende Neuerscheinungen von Valerie Fritsch und Egyd Gstättner geben.

Gstättner: Endlich wieder im Garten liegen und lesen. Und schwimmen: Der Wörthersee hat 26 Grad, das Strandbad ist bis 21.00 Uhr geöffnet.

16. Soll die Euro jemals wieder auf so viele Städte aufgeteilt werden? Oder hat es mehr Charme, ein bis zwei Länder mit der Austragung zu betrauen?

Fritsch: Ich denke, die örtliche Zerspragelung war für Spieler und Zuschauer eine nicht unerhebliche Belastung, und es spricht pragmatisch nichts gegen ein dezidiertes Gastgeberland.

Franzobel: Das ist mir wurscht, weil ich bin sowieso ein Fernsehjunkie.

Gstättner: Nein, die pan-europäische EURO hat deutlich bewiesen, dass es kein PAN-Europa gibt. Identität und Charakter fehlen. Sein eigener Gastgeber sein ist absurder Murks, von den vielen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten ganz zu schweigen. Das alte Modell war besser.