Der letzte Schütze Italiens trat zum Elfmeter an. Mittelfeldstar Jorginho, in Brasilien geboren und seit 2012 mit italienischer Staatsbürgerschaft, schob den Ball locker in die rechte Ecke. Italien hatte Spanien im EM-Halbfinale bezwungen. Im Londoner Wembley-Stadion gab es kein Halten mehr. Aber auch in Italien selbst hatte dieser Schuss weit sichtbare Folgen.

Die Tifosi liefen auf die Straßen, von Turin bis Taranto gab es Autokorsos, die glücklichen Fans der Squadra Azzurra hupten, tanzten, sangen. Was für eine glänzende Nacht nach langer Dunkelheit. Die Corona-Pandemie hatte in Italien mit 127.000 Toten besonders gewütet. Die vergangenen Wochen fühlten sich so an, als sei das Land aus einem langen dunklen Tunnel gekrochen und am Ausgang unverhofft auf einer hell beleuchteten Bühne gelandet.

Desaster, wohin das Auge reichte

Italien steht nicht nur im Finale der Fußball-EM – eine Fußballnation erlebt gerade noch etwas ungläubig ihre eigene Auferstehung. Dass Roberto Mancinis Team so weit kommen würde, glaubten vor dem Turnier nicht einmal Optimisten. Italiens Fußball befand sich nach der verpassten Qualifikation für die WM 2018 in einer tiefen Krise. Im August 2018 stürzte auch noch die Morandi-Brücke bei Genua ein. Desaster, wohin das Auge reichte. Umso größer ist nun der Effekt, den die Nationalmannschaft mit ihrem unerwarteten Erfolg im Land erzielt hat.

Die Italiener sind besonders fußballverrückt. Aber das fußballerische Selbstbewusstsein war 2018 am Boden, vier WM-Titeln und einem EM-Triumph zum Trotz. Dann kam Mancini und bewirkte ein kleines Wunder. Kapitän Giorgio Chiellini beschrieb es so: „Am Anfang, vor drei Jahren, als Mancini behauptete, dass wir wieder Sieger werden können, dachten wir, er sei verrückt. Jetzt sind wir hier. Es fehlt nur der letzte Zentimeter.“

Das Glück mit Schüssen gefeiert

Spieler, deren Namen die meisten Landsleute vor dem Turnier noch nie gehört hatten, begeisterten die Italiener. Wer hatte schon Manuel Locatelli, Matteo Pessina oder Leonardo Spinazzola auf der Rechnung? Schon nach dem Viertelfinale gegen Belgien kaperten die italienischen Tifosi in der Heimat Linienbusse und führten ekstatische Feixtänze auf den Dächern auf. Polizeistreifen versuchten die feiernden Massen auseinanderzutreiben, die Pandemie ist schließlich immer noch im Gange. Kein Grund für einige Feierwütige, nicht doch in die Renaissance-Brunnen in Rom oder Florenz zu springen und Italien zu feiern. Aus Neapel wurde berichtet, einige Fußballverrückte hätten angesichts des Finaleinzugs ihre Pistolen gezückt und das Glück mit ein paar Schüssen in den Himmel gefeiert.

Nicht auszumalen, was am Sonntag nach einem möglichen Turniersieg von Pordenone bis Palermo los sein könnte. An vielen Orten im Land werden Großbildleinwände aufgestellt, Sicherheitsabstand und beschränkter Zugang sollen Corona-Ansteckungen verhindern. „Keine Angst“ titelte die „Gazzetta dello Sport“ am Freitag, als sollten alle Widrigkeiten und Hindernisse auf dem Weg zu Italiens Titelgewinn aus dem Weg geräumt werden. Dass Mancinis Mannschaft nach den bisherigen Vorstellungen bei diesem Turnier gute Chancen hat, Europameister zu werden, darf man im abergläubischen Italien selbstverständlich nicht laut sagen. Es brächte Unglück. „Vor drei Jahren waren wir noch in der Hölle und jetzt treten wir über den Haupteingang ins Paradies ein“, schrieb der sonst eher nüchterne Corriere della Sera.

Der "commissario tecnico"

Als Vater dieser Entwicklung kann eigentlich nur der „commissario tecnico“ gelten. Trainer Mancini setzt auf „Bellezza“, Schönheit, wenn es sein muss, kann seine Mannschaft aber auch den alten „Catenaccio“ spielen – und wie gegen Spanien einen Zehn-Mann-Riegel vor dem Tor aufbauen. Italien gilt bei diesem Turnier als die flexibelste Mannschaft, es ist eine Eigenheit, die auch den Italienern insgesamt nachgesagt wird. Mancinis Team hat eine offensive Anlage, wenn der Gegner besser mit dem Ball umgehen kann, verteidigt man sich halt. Doch Mancini ist ein Fußball-Ästhet. Zwischendurch konnte man fast den Eindruck bekommen, ihm sei daran gelegen, den angeknacksten Ruf des italienischen Fußballs als manisch defensiv zu rehabilitieren.
Wie hatte die Gazzetta dello Sport getitelt? „Senza paura“, ohne Angst. Die jüngste Entwicklung des italienischen Fußballs ist schwindelerregend. Dass manche da ein wenig die Orientierung verlieren, verwundert nicht.