Frankreich kämpft eine Woche vor der EM mit einem historischen Hochwasser und mit massiven Protesten und Streiks gegen die Arbeitsmarktreform. Spürt man überhaupt schon etwas von einer Fußballfeststimmung oder ist das Land dafür zu sehr im politischen Kampf vertieft und überstrahlt das Chaos?

URSULA PLASSNIK: Die Franzosen sind Weltmeister der Improvisationskunst, wenn es um große und sogar unvorhersehbare Ereignisse geht. Das hat man zum Beispiel am 11. Jänner 2015 nach Charlie Hebdo gesehen, wo sie in den Tagen des Terrors 45 Staatschefs und deren Delegationen makellos empfangen haben, ohne irgendwelche Probleme. Jetzt bereiten sie sich seit langem sehr intensiv auf das große Fest der EURO vor. Das ist für Frankreich kein Improvisationsthema sondern eines der präzisen Vorbereitung. Ich bin daher sehr zuversichtlich. Spätestens wenn der erste Ball rollt, wird die Stimmung im Land umschlagen und die Aufmerksamkeit ganz auf dieses Ereignis gerichtet sein. Diese Woche kam es für die Franzosen allerdings knüppeldick, im Vordergrund steht momentan das Hochwasser. Am Freitag war zum ersten Mal, seit ich in Paris bin, der Louvre geschlossen, weil die Seine einen Höchststand von sechs Metern erreicht hatte. Neben den Streiks also zusätzliche Verkehrsbehinderungen durch Überflutungen.

Ein denkbar unglücklicher Zeitpunkt, wenige Tage vor der EM...

PLASSNIK: Diejenigen, die Streiks organisieren, suchen sich naturgemäß nicht einen Zeitpunkt minimaler Aufmerksamkeit aus. Es ist nicht leicht, vorherzusagen, wann die Stimmung gegen die Streikenden drehen wird, die Franzosen sind ja gewohnt, mit Beeinträchtigungen im Alltag umzugehen. Das kommt hier eben viel häufiger vor als anderswo. Bisher gibt es noch 62 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung, mittlerweile sind erste Anzeichen eines Aufeinanderzugehens zwischen der Streik-Gewerkschaft CGT und der Regierung erkennbar.

Wird das Auswirkungen haben auf die Fans?

PLASSNIK: Nein, davon gehe ich nicht aus. Ich würde die österreichischen Fußballfreunde ermutigen, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihnen liegt – nämlich ein ganz außerordentliches Sportereignis – und sich zu freuen auf das Land, die Leute und das Fest. Selbstverständlich wird die Logistik anspruchsvoll, es geht immerhin um die drittgrößte Sportveranstaltung der Welt. Es wird nicht immer ganz leicht sein, speziell in Paris, von einer Ecke der Stadt zur anderen zu kommen, bei zwölf Millionen Einwohnern und weiteren zwei Millionen Fans. Das ist schon eine gewaltige Herausforderung für die öffentlichen Verkehrsmittel. Aber ich bin mir sicher, dass die Franzosen das im Griff haben.

Viele Fans reisen mit Unbehagen im Bauch an, einige haben aus Angst vor Chaos oder Terror ihre Tickets zurückgegeben. Sie wohnen schon lange in Paris. Ist das eine reale Angst oder doch aufgebauscht nach den Anschlägen?

PLASSNIK: Frankreich nimmt die andauernden Terrordrohungen sehr ernst. Nach wie vor gelten Ausnahmezustand und höchste Alarmstufe. Damit lebt Paris allerdings seit über einem Jahr und der Alltag funktioniert klaglos. Die Franzosen lassen sich nicht von Terroristen vorschreiben, wie sie zu leben haben, wie sie zu feiern haben, wie ihr Alltag abläuft. Punktuelle Beeinträchtigungen kann es natürlich geben, etwa verstärkte Kontrollen oder Verzögerungen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Handtaschen an jedem Eingang kurz angeschaut werden. Gelegentlich wartet man eben ein wenig länger. Aber das bedeutet keineswegs, dass das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen ist. Im Gegenteil: Viele Freunde und Bekannte, die jetzt eher ängstlich nach Paris kommen, sagen am Ende ihrer Reise, es sei doch anders als in den Medien im Ausland dargestellt. Es gibt eine objektive Gefährdung, die man nicht kleinreden darf, aber die ist ja bekanntlich nicht auf Frankreich beschränkt. Daher unbedingt die hiesigen Sicherheitsvorschriften befolgen.

Was haben die Anschläge mit den Franzosen gemacht?

PLASSNIK: Unmittelbar nach den Terrorattacken im Jänner und November 2015 spürte man schon eine erhöhte Aufmerksamkeit, auch Anspannung. Da schaute jeder heimlich misstrauisch um sich. Wer mit einem Rucksack in ein Restaurant ging, selbst der harmloseste Bürokrat, der seine Kollegen zum Mittagessen traf, wurde schief angeschaut. Jetzt sind fast 100.000 Sicherheitskräfte von Polizei, Militär und Gendarmerie zur Unterstützung aufgestellt. Sie haben große Erfahrung im Umgang mit solchen Situationen. Mit dem Frühling ist das Leben zurückgekehrt nach Paris. Man flaniert, geht aus, besucht Theater und Kino, sitzt mit Freunden essend und trinkend auf den Terrassen. Paris zieht den Kopf nicht ein.
In Österreich diskutieren wir seit den Wahlen über eine Spaltung des Landes. In Frankreich ist die Aufladung am rechten und linken Rand schon lange präsent. Wie groß ist die Hoffnung, dass die Euro die Nation eint?
PLASSNIK: Mit den klassischen Kategorien „Links“ und „Rechts“ sind Spaltungen innerhalb der französischen Gesellschaft –wie auch anderswo in Europa –längst nicht mehr hinreichend zu erklären. Da gibt es viele neue Bruchlinien und Spannungen. Die verlaufen zum Teil zwischen den so genannten Globalisierungsgewinnern und –verlierern, auch geographisch. Man merkt einen deutlichen Abstand zwischen dem Land und den Städten, insbesondere dem Großraum Paris, der ein Turbo ist bei der Schaffung von Arbeitsplätzen. Frankreich hat mittlerweile eine Industriequote von nur mehr zwölf Prozent, was für ein Riesenland sehr niedrig ist. Es gibt immer weniger Fabriken mit tausenden Arbeitsplätzen.

Ist es nur die Wirtschaft?

PLASSNIK: Frankreich hat allgemeines Globalisierungsweh. Wie will man zukünftig zusammenleben in dieser Vielfalt der Lebensstile, Herkünfte und Kulturen, die Frankreich seit Jahrzehnten kennt. Wie verhindert man das Entstehen von Parallelgesellschaften, den Rückzug in ethnisch konfigurierte Schneckenhäuser, die Abschottung voneinander? Es gibt viele kluge Initiativen der Zivilgesellschaft, auch in den Gemeinden. Aber eben auch Defizite. Natürlich erwarten sich jetzt alle frischen Schwung von der EURO. Die Franzosen sind ja große Fußballfans und haben eine hervorragende und bunt zusammengesetzte Nationalmannschaft, die das Thema Globalisierung sehr positiv widerspiegelt. Daraus einen positiven Impuls zu erwarten, ist nicht unrealistisch.

Wir schauen erstaunt auf das, worüber in Frankreich gestritten wird. Denn bei den Arbeitsmarktreformen wurde beschlossen, was in den meisten Ländern Europas längst umgesetzt ist. Gibt es in Frankreich tatsächlich kein Verständnis dafür, dass sich etwas ändern muss und der Sozialstaat nicht alles leisten kann? Oder ist das nur ein typisch französischer Reflex des zivilen Widerstands?

PLASSNIK: Das ist die Kernfrage, die wohl am schwierigsten zu beantworten ist. Es gibt dazu sehr unterschiedliche Stimmen, selbst innerhalb der Regierung. Manche wollen noch viel weiter gehen, aus ihrer Sicht verwässert die Reform gute Ansätze bereits viel zu stark. Frankreich müsste eigentlich viel weiter in Richtung Flexicurity gehen, also die in Europa bereits weit verbreitete Kompromissformel von Flexibilität und Sicherheit, die einen einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bietet. Aber die Franzosen sind keine Freunde von Flexicurity. Das ist für sie ein unverständliches Konzept, das man ihnen geduldiger erklären müsste.

Also mangelnde Aufklärung?

PLASSNIK: Auch. Ich frage mich manchmal, ob politische Pädagogik in Frankreich funktionieren kann und wer diese Aufgabe auch wirklich an vorderster Front übernehmen könnte. Man hört weitum Lippenbekenntnisse zu Notwendigkeit einer Veränderung. Aber wenn es ans Eingemachte geht, sind die Beharrungskräfte enorm. Und Frankreich kennt immer noch Formen des Klassenkampfes, die uns gar nicht mehr geläufig sind. Dafür gibt es eine Reihe tiefgreifender Ursachen. Die politische Kultur, das Selbstverständnis, die Lust und Akzeptanz, bestimmte Auseinandersetzungen auf der Straße auszutragen. Es gibt aus meiner Sicht auch eine größere gesellschaftliche Toleranz gegenüber Phänomen, die man bei uns unter den Begriff Gewalt einordnen würde. Denken Sie an das Bild des Personalchefs von Air France, der vor seinen Mitarbeitern mit abgerissenem Ärmel über einen Zaun flüchtete. Das Bild ist vor nicht allzu langer Zeit durch die Weltpresse gegangen. Für französische Augen ist das eine nicht so enorme Ausnahme, jedenfalls nicht so, wie es das für österreichische Augen wäre.

Dass Frankreich Europameister werden soll, ist klar. Aber blickt man auch auf andere Teams?

PLASSNIK: Ich bin nicht tief genug in der französischen Fußballseele für eine informierte Antwort. Die Franzosen haben es immer wieder geschafft, sich unter widrigen Umständen in die erste Reihe zu katapultieren. Es ist ein Teil ihres Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens, das fasziniert auch an ihnen. Das spornt sie immer wieder an und treibt sie zu Höchstleistungen. Deshalb ist ihre eigene Nationalmannschaft sicher das Epizentrum ihrer Aufmerksamkeit. Die Blauen haben in Österreich ihr Trainingslager abgehalten und waren recht zufrieden. Die Höhenluft auf Tausend Metern in Neustift hat ihnen gut getan.

INTERVIEW: INGO HASEWEND