In drei Juliwochen säumt jedes Jahr eine Menschenmenge die Straße, auf der eine Stunde lang die Prozession des Kommerzes einher zieht. Bis, meist innert zwanzig Sekunden, der Pulk der Athleten mit einem Zischen und Sirren vorbeibraust. Im Fahrerfeld sind Einzelne kaum erkennbar. Ihnen weit voraus präsentiert die lange Kolonne im Schritttempo übersteigerter Erkennbarkeit Konsumprodukte. Die Aufmerksamkeit erregen riesige Plastikfiguren und Markensymbole auf Ladeflächen von Lastern und Pick-ups, aus denen bunt geschmückte Hostessen Werbegeschenke verteilen.

Ein gelber Wagen transportiert einen Statisten, der ganz in Gelb auf einem fixierten gelben Velo strampelt, stets auf der Stelle, sich zugleich mit der Kolonne durch weite Teile Frankreichs bewegend. Als gelte es, ein Sinnbild der Simulation vorzuführen. Hinter ihm, schräg nach oben gerichtet, eine Tube mit der Aufschrift „ça cole“, das klebt. Wie eine Rakete sieht sie aus, ähnlich auf anderen Autos ein riesiger gelber Kugelschreiber und ein rot gepunktetes Feuerzeug.

Das Publikum applaudiert, ruft und empfängt Kugelschreiber und Feuerzeuge. Und wendet sich den nächsten Fahrzeugen zu, einer comiclesenden Mickey Mouse, dann einem Teddybären mit weißem Herz auf rotem Trikot. Flaggen flattern daher, enorme Flaschen gleiten vorüber, es folgen Kleeblätter und Lottokugeln für den heimischen Glücksspielkonzern. Auf dem nächsten Chassis eine Gigantenbrille, als müsse sich der Wagen gegen die Sonne schützen. Überdimensionale Kekspackungen rollen an und eine Madeleine wie ein kleiner Panzer, aus dem die Nationalhymne mit dem integrierten Namen der Mehlspeismarke ertönt. Auf einem alten rot-weiß getupften Automodell ähneln fünf, sechs Baguettes kleinen Geschützen. Der folgende Wagen hat eine Skihütte mit Styroporschnee auf dem Dach, ein anderer das Nationalemblem des französischen Gockels als Aufbau.

Auch der Hahn tritt in die Pedale. Den rollenden Tiergiganten aus Kunststoff applaudiert die Menge am Straßenrand besonders stark, einem Hund und einem Schwein, einem Schaf und einer Kuh und einem gelben Fisch an der Angel. Dafür regnet es aus den Pick-ups Tüten mit Wurst, mit Käse, mit Pastetchen, alles in Plastikverpackungen. Im Laufe von drei Wochen verteilt eine Firma eineinhalb Millionen Bonbonsäckchen, eine andere 460 000 Würstchen, eine dritte zweieinhalb Tonnen Madeleines. Auf den Dienstautos der Gendarmerie blinken Leuchttafeln, dass die Sicherheitskräfte Leute einstellen, „rejoignez-nous“, kommen Sie zu uns.

Hunderttausende Touristen

Halb Frankreich und Hunderttausende Touristen sind da, um die Helden, die Giganten der Landstraße, vor allem aber diese Parade hupender verkleideter Fahrzeuge, auf ihnen winkende, tanzende, musizierende Statisten zu erleben, während Lautsprecher alle vorbeiziehenden Warenmarken als offizielle Partner der Tour de France ausrufen. Mindestens 250.000 Euro kostet die Teilnahme. Drei oder nach anderen Schätzungen fünf Millionen Euro hat eine Mineralwasserfirma des Nestlé-Konzerns bezahlt, um mit ihrem Wagen mitrollen zu können.

Klaus Zeyringer
Klaus Zeyringer © Mathelitsch

Es ist das einzige Großereignis der Welt mit einem Verhältnis 150:1 von Werbung zu Sport. Würde nicht das Publikum, freudig unterhalten, mit steten „Ahs“ und „Ohs“ und „regarde!“ reagieren, müsste der Kontrast großer Aufwand und kleine sportliche Wirkung komisch scheinen. Immerhin sieht diese Prozession der Kommerzorgie aus wie ein Komos, der ritualisierte Umzug des Dionysoskults, adaptiert für den umfassenden Kapitalismus. Ein Aufzug der Karnevalisierung zum Konsumanreiz.

Umkehrung der Verhältnisse

Außer bei den Bergetappen, bei denen die Radstars etwas länger aus der Nähe zu sehen und erkennbar sind, spielt der Sport die Nebenrolle. Es gilt das Event. Anders als im Fernsehen ist es vor Ort die Werbekarawane – eine Umkehrung der Verhältnisse: Das Sportereignis, das dem Ganzen seinen Ursprung, Grund und Namen verleiht, gibt in seiner Arena, auf der Straße, den Platz an das Marketingereignis ab. Nicht die Reklame tritt in der Pause auf, sondern der Athlet als Pausenfüller der Reklame.

Stefan Gmünder, Klaus Zeyringer. Das wunde Leder. Suhrkamp-Verlag, 128 Seiten, 12,40 Euro.
Stefan Gmünder, Klaus Zeyringer. Das wunde Leder. Suhrkamp-Verlag, 128 Seiten, 12,40 Euro. © KK

Die „caravane publicitaire“, die Werbekarawane, führten die Organisatoren der Tour de France 1930 ein. Da ließen sie statt Nationalmannschaften nunmehr Firmenteams an den Start. Dadurch meinten sie weniger Sponsorengelder zu erhalten, da die Unternehmen ja ohnehin mittels ihrer Athleten werben und nicht zusätzlich bezahlen würden. Dies sollte eine neue Möglichkeit wettmachen, die Werbung lasse sich ja gut dorthin bringen, wo die Kunden so zahlreich standen und man ohnedies durchs Land rollte: auf die Straße.

Reklamegeschenke als Objekt der Begierde

Heute bilden zweihundert Fahrzeuge eine zwanzig Kilometer lange Reklame, die den Radprofis vorausrollt; sie verteilt elf Millionen kleine Geschenke. Die Firmen zeigen sich hochzufrieden, es zahle sich aus. Immerhin steht ein Fünftel der französischen Bevölkerung an den Straßen der Tour, und eine Umfrage ergab 2013, dass knapp die Hälfte des Publikums in erster Linie wegen der Werbekarawane kommt. Manche Leute stellen sich sukzessive an mehreren Stellen auf, um möglichst viele Reklamegeschenke zu erhaschen.

Für die Veranstalter lohnt sich die Tour de France, jährlich stecken sie etwa zwanzig Millionen Euro Reingewinn ein. Für ihren Umsatz von geschätzt hundert Millionen Euro sorgen zu dreißig Prozent die Sponsoren, zu zehn Prozent die Gemeinden und Regionen (Ziel einer Etappe zu sein, kostet mindestens um die sechzigtausend Euro). Den größten Teil bringen die Fernsehrechte, in 190 Ländern verfolgen zeitweise 3,5 Milliarden Menschen das größte und renommierteste Radsportereignis der Welt.

Nutznießer Frankreich

Kritiker bemängeln, das Geld komme weniger den Athleten zugute als vielmehr den Organisatoren, die teuer ein Produkt verkaufen, das ihnen praktisch geschenkt wird: Frankreich. Die Tour de France befindet sich im Besitz der Amaury Sport Organisation (ASO), einer Tochter der Pressegruppe, die das Sportblatt „L’Equipe“ und die Tageszeitung „Le Parisien“ herausgibt. Der ehemalige „L’Equipe“-Journalist Pierre Ballester meint, die Tour sei sportlich tot, denn ASO stelle das Finanzielle über das Sportliche.

Wer die Werbekarawane erlebt, muss ihm recht geben. Sie überrollt die Helden der Landstraße, die sich selbst mit einer nicht abreißenden Serie von Dopingskandalen überrollen. Ihrer Fernsehpräsenz schadet dies indes kaum. Auch am Straßenrand ist die Tour de France nach wie vor populär. Als einziges Sportereignis kommt eine Rundfahrt zu den Zuschauern und reist durchs Land.
Mit Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stand das Radfahren geradezu sinnbildlich für Bewegung und Fortschritt der Moderne.

Seit 116 Jahren

1903 wurde die Tour de France ins Leben gerufen, im Hintergrund ihrer Gründung wirkten Werbung, Politik und Nationalismus. Da die Zeitung „Vélo“ an der Seite von Emile Zola für Alfred Dreyfus eintrat, zogen einige Industrielle ihre Werbung zurück und ließen für ihre Reklamezwecke ein neues Blatt, “L’Auto“ (ab 1946: „L’Equipe“), aufbauen. Da der auf grünem Papier erscheinende Konkurrent das Radrennen Paris-Brest-Paris organisierte, kam der Herausgeber von „L’Auto“ auf die Idee einer Rundfahrt im ganzen Land und später auf das Gelbe Trikot des Führenden in der Gesamtwertung, da seine Zeitung gelbes Papier verwendete.

Die Berichterstattung erfand sofort den Helden der Straße. Schon bei der ersten Tour schrieb die Zeitung von den „géants de la route“, die unsägliche Widrigkeiten und Schmerzen überwinden – geradezu sprichwörtlich wurde die Aussage, dass derjenige gewinne, der am besten zu leiden wisse. Die sakrale Aufladung folgte alsbald. 1905 behauptete „L’Auto“, die Tour sei „ein großer moralischer Kreuzzug“, die Fahrer bezeichnete das Blatt als „unsere Apostel“. Dem Publikum präsentierte sich Frankreich als Einheit und zugleich in seiner Vielfalt. Ab der Frühzeit der Tour schrieben die Artikel regionale Stereotype fest: von den gläubigen Bretonen, die beten und sich vor den großen Berganstiegen bekreuzigen; von den beredten Männern des Südens, den waghalsigen Basken, den cleveren Normannen. Mit derartigen Zuweisungen versahen die Zeitungen auch das Publikum an der Strecke und zeigten es gern in traditionellen Gewändern.

Auffrischung und Erweiterung des Schulwissens

Die Tour wurde zur jährlichen Lehrstunde französischer Geografie und Geschichte. Wer sie verfolgte – das war bald fast die ganze Bevölkerung –, erfuhr eine Auffrischung sowie Erweiterung des Schulwissens: die Namen der Departements und Präfekturen, die Höhe der Berge, die Distanzen zwischen den Etappenorten, die klimatischen Bedingungen und dazu die Legenden der Rundfahrt. Humoristisch fand dies seinen Niederschlag im Witz vom Schüler, den der Lehrer fragt, wo die Stadt Dinan liege. „In der vierten Etappe, Monsieur.“

© MK

Es ist eine große Erzählung über Frankreich und das Franzosentum mit den zwei Polen Tradition und Moderne. General de Gaulle regiere das Land elf Monate im Jahr, im Juli sei es der Direktor der Tour de France, schrieb der Journalist Antoine Blondin. Zugleich wirkte von Anfang an eine Ethik der Männlichkeit, ein dem rechten politischen Lager wichtiger „Kult der Anstrengung“ und ein starker Chauvinismus, der mehrmals zu gewalttätigen Zwischenfällen führte.

Die besten Doper

Derart aufgeladen ist die Tour, die auf den Landstraßen zum Publikum kommt, geradezu der ideale Werbeträger und über das Fernsehen die beste Reklame für den Tourismus. Das sportliche Ideal bleibt allerdings oft am Doping hängen. Zu viele Sieger haben gewonnen, nicht weil sie am besten leiden, sondern weil sie am besten dopen konnten.

Zu den vielen Legenden des größten Radsportereignisses der Welt gehört eine Episode aus dem Jahr 1924. Der Vorjahressieger Henri Pélissier, sein Bruder und ein Freund stiegen nach der dritten Etappe vom Rad und aus der Tour der Leiden aus. Vor den versammelten Journalisten klagten sie über die unmenschlichen Strapazen, dann legten sie die von ihnen verwendeten Dopingmittel auf den Tisch.

Leistungssteigerung

Vom Beginn des Ausdauersports an, sei es der Marathonlauf, seien es die Radrennen, haben Athleten immer versucht, ihre Leistung mit allen möglichen Substanzen zu steigern, sei es Alkohol, sei es Strychnin, seien es seltsame Hausmittel. Mit der Entwicklung der chemischen Industrie und vor allem mit der immensen Kommerzialisierung des Sports erreichte das Doping neue Dimensionen. Seit Jahrzehnten ist davon im besonderen Maße der Radsport betroffen, ist die Geschichte der unlauteren Mittel und ihrer mitunter tödlichen Auswirkungen eng mit der Tour de France verknüpft.

In der Werbekarawane ist selbstverständlich von den positiven Tests, den Betrügereien und Skandalen nie die Rede. Sie zieht als saubere, bunte Prozession und Parade einher, die zum Zwecke der Produktplatzierung das Positive und Gute, das Erfolgreiche und Begehrenswerte vorführt.