Im Unterschied zu Interviews mit anderen Athleten fällt Ihr fixierender Blick auf. Sie scheinen jede kleinste Bewegung des Fragestellers zu antizipieren. Ist das eine „Berufskrankheit“ von Kampfsportlern?

NICOLE TRIMMEL: (lacht) Das mag sein. Meine Sportart bringt das so mit sich. Wir trainieren jahrelang, jede kleinste Bewegung der Gegnerin oder jedes Empfinden wahrzunehmen, um schnell darauf reagieren zu können. Man lernt, sein Gegenüber zu lesen. Ziel ist es, auf alles, was die Gegnerin macht, eine Antwort zu haben. Man sollte also breiter aufgestellt sein. Das ist auch eine Strategie, die man ins tägliche Leben mitnehmen kann: Es gibt nicht nur die Varianten A und B, es kann auch C und D kommen.

Ich komme in Frieden.

Beim Kickboxen ist das ein anderes Psychospiel als bei Lauf- oder Schwimmwettkämpfen. Ich schaue der Gegnerin direkt in die Augen, außerdem kann im Ring niemand davonlaufen. Es läuft zugespitzt darauf hinaus: Zwei gehen rein, einer kommt raus.

Gerade diese Duellsituation wird bei ja schon vor dem ersten Schlag zelebriert.

Weil man im Ring ja nicht mit dem Gegner redet, sondern mittels Ausstrahlung kommuniziert – über die Körpersprache: wie du dich hinstellst, wohin dein Blick geht. Man muss sich seiner Stärken bewusst sein und das auch zeigen. So hat man ein anderes Auftreten und wirkt anders. Das gilt auch im Alltag. Wenn man einen Raum betritt oder in eine Besprechung geht, gibt es die Variante, in die klassische Opferrolle zu schlüpfen, oder man geht als Champion hinein.

Wie viel Show ist da dabei beziehungsweise notwendig?

Vielleicht muss man ein bisschen Schauspieler sein – auch im Wettkampf. Man ist ja nicht immer zu hundert Prozent topfit, will diese Schwäche aber nicht zeigen. Gerade in solchen Momenten habe ich die Selbstsicherheit besonders intensiv zur Schau gestellt – nach dem Motto: Hier ist die rote Linie, und wenn du sie überschreitest, kracht’s!

Fehlt Frauen diese Selbstsicherheit zu häufig?

Sie würden sie sicher öfter brauchen. Männer reagieren da anders. Sie stellen sich schnell überallhin und reden bei Sachen mit, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben und verkaufen sich gut. Frauen fehlt dieses Selbstbewusstsein häufig. Selbst bei Themen, wo sie sich auskennen und die Expertinnen sind, stellen sie sich nicht hin und beziehen ihre Position. Das ist schade.

Wie kommt man als junge Frau eigentlich auf die Idee, Kickboxerin zu werden?

Mich hat schon als Kind Kampfsport interessiert. Es hat mich fasziniert, was man mit seinem Körper machen kann und wie viel Disziplin, Präzision und Dynamik hinter diesen Bewegungen steckt. Dazu die Philosophie des Kampfsports: ein eher gelassener, ruhiger, in sich ruhender Mensch zu sein, der seine Fähigkeiten und Stärke nur verwendet, wenn es wirklich darauf ankommt. Es sind Leute, die wissen, was sie können, es aber nicht raushängen lassen. Das hat mich fasziniert.

Aber es braucht doch ein Grundmaß an Aggression oder Aggressionsbereitschaft, um in diesem Sport erfolgreich zu sein?

Das wird oft vermutet – aber das Gegenteil ist der Fall, denn Aggressivität macht blind. Aggressive Sportler sind meistens die, die nicht erfolgreich sind, weil sie durch diese „Blindheit“ in fünf Fäuste laufen, bevor sie vielleicht selbst einen Treffer landen können. Natürlich passiert es in einem Kampf, dass man sich ärgert, wenn man eine drauf bekommt, und man denkt sich, jetzt erst recht. Aber der Ärger macht es meistens ärger – dann läuft man schnell in den nächsten Schlag, weil man seinen Fokus verloren hat, zu hudeln beginnt und so Fehler passieren. Das ist wie in Stresssituationen im Alltag.

Was braucht es dann?

Ich würde eher von einem Aktivierungszustand sprechen. Man muss hellwach, präsent und mit allen Sinnen da sein. Ich bin jedenfalls nie mit der Einstellung in den Ring gestiegen, dass ich die Gegnerin – banal ausgedrückt – umbringen will.

Sondern?

Bei mir war es Respekt gegenüber der Gegnerin und gegenüber der Aufgabe, aber natürlich mit dem Fokus, gewinnen zu wollen. Vielleicht gibt es Sportler, die so funktionieren.

Lindsey Vonn wollte immer bei einem Herrenskirennen an den Start gehen. Welchen Unterschied macht es, gegen einen Mann zu kämpfen?

Ich bin mit Männern im Verein groß geworden. Meine Trainingspartner waren zu 85 Prozent Männer, teilweise haben sie 90 Kilo und mehr gehabt, ich gerade einmal über 60. Wenn die dann „locker“ zugeschlagen haben, war es für mich schon ein Überlebenskampf. Deckung hoch! Der Unterschied? Wenn man mit Männer trainiert, entschuldigt sich keiner. Frauen sagen nach Treffern sehr schnell „Ui, tut mir leid! Oh Maria, geht’s eh?“ Männer sind da schmerzbefreiter und ehrlicher. Mir hat das immer mehr getaugt, weil ich davon profitieren konnte. Wenn mich mein Trainer getroffen hat und ich habe die Wucht und Masse richtig geblockt, was soll mir dann eine starke Gegnerin noch tun können?

Wie viele blöde Kommentare von Männern muss man sich als Kampfsportlerin anhören?

Die Top-1-Frage ist „Könntest du mich umhauen?“ beziehungsweise „Mich könntest du nicht k. o. schlagen, oder?“. Je nachdem, wie gut man dann aufgelegt ist, spitzt man die Diskussion zu und sagt „Na ja, so würde ich das jetzt nicht sehen ...“ oder beendet es schnell und sagt „Nein, du bist größer ...“ und lässt dem Gegenüber halt sein kurzes Erfolgsgefühl.

Aber wenn ein 100-Kilo-Bröckerl trifft ...

Dann wird das für mich nicht gut ausschauen, schon allein aufgrund von physikalischen Gesetzen wie Masse mal Geschwindigkeit. Aber die Frage ist: Kann er die Schlagkraft entwickeln, wird er mich überhaupt treffen? Denn bis er mich trifft, habe ich ihn aufgrund meiner Technik schon fünf Mal getroffen.