Wie oft haben Sie sich zuletzt gedacht, es war ein Fehler, mit der ÖVP zu koalieren?
SIGRID MAURER: Nie.

Sie haben in Zusammenhang mit Moria gemeint, die ÖVP unterscheidet sich kaum von der FPÖ.
Das hat sich auf Gernot Blümel bezogen, dessen Wortwahl sehr an die FPÖ erinnert. Es war in dieser Konstellation von Beginn an klar, dass es Themen gibt, bei denen wir extrem unterschiedliche Ansichten vertreten. In vielen anderen Bereichen funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Wir Grüne haben Verantwortung übernommen, um die Republik voranzubringen: saubere Umwelt, saubere Politik, Transparenz.

In der Flüchtlingspolitik sind Sie aber Steigbügelhalter der ÖVP.
Das Gegenteil ist der Fall. Wären wir nicht in der Regierung, würde die ÖVP gemeinsam mit den Freiheitlichen einen wesentlich schärferen Kurs in der Asylpolitik verfolgen.

Sie haben erklärt, die Grünen würden bei Moria nicht die Flinte ins Korn werfen, sondern seien kampfbereit. Ist es nicht ein Kampf gegen Windmühlen?
Das sehe ich nicht so. Die ÖVP ist in der Frage deutlich gespaltener, als man denkt. Wir haben erreicht, dass der Auslandskatastrophenfonds auf 50 Millionen verdoppelt, die UNHCR-Mittel vervierfacht werden. Das entspricht dem, was NGOs über viele Jahre gefordert haben.

Mit der SPÖ wäre es leichter?
Da bin ich mir nicht so sicher, wenn ich mir anschaue, was Doskozil so von sich gibt. Die SPÖ hat mit der ÖVP 29 Asylrechtsverschärfungen beschlossen. Für mich ist klar, wir sind die treibende Kraft in Richtung Zukunft.

Der Zweck heiligt die Mittel. Wie ist das mit Ihrem Gewissen vereinbar?
Es wäre nicht mit meinem Gewissen vereinbar, würden wir mit unserem Stimmverhalten letztlich eine Verschärfung bewirken. Wir haben im Parlament keine Mehrheit für eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria. Würden wir in der Frage gegen die ÖVP stimmen, könnte die ÖVP mit der FPÖ stimmen. Das hätte reale Folgen für die betroffenen Menschen. Im Übrigen haben wir in den letzten Monaten bewiesen, dass uns auch viele soziale Erfolge gelungen sind: die Pauschalerhöhung des Arbeitslosengeldes in einer ersten Tranche, das Gesetz zu Hass im Netz, die Anhebung der Mindestpension um 3,5 Prozent. Damit steigt automatisch die Mindestsicherung. Erfolge, die die SPÖ in den Jahren in der Regierung nicht zustande gebracht hat.

Kurz hat gesagt, jeder wird bald jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. In Wien kennt bald jeder jemanden, der Probleme mit 1450, den Tests und der Kontaktverfolgung hat. Wer ist schuld? Anschober oder Hacker?
Die Verantwortung für 1450, Contact Tracing, die Tests und den Kauf der Schutzkleidung liegt bei den Ländern. Leider verträgt sich die Pandemie nicht gut mit dem Föderalismus. Rudi Anschober hat in den Bereichen schon vor Monaten die Vorgaben festgelegt. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen finde ich wenig hilfreich.

Wäre die Pandemie nicht ein guter Aufhänger, um den Föderalismus zu reformieren?
Wir feiern gerade 100 Jahre Verfassung, 1920 ist man schon an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern gescheitert. Man muss die Frage mittelfristig angehen, denn die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir ein neues Epidemiegesetz brauchen, weil das alte nicht mehr zeitgemäß ist.

Wären Sie für eine totale Entmachtung der Länder?
In einigen Bereichen wünscht man sich durchaus Bundeskompetenz, wie etwa bei den Kindergärten, wo extrem große Unterschiede herrschen. Der Föderalismus ist in Österreich ein großes Thema. Es muss möglich sein, klarere Strukturen und Prozessabläufe zu schaffen, damit sich die Länder nicht mehr aus der Verantwortung stehlen können.

Ist ein zweiter Lockdown vorstellbar?
Wir tun absolut alles, um einen zweiten Lockdown zu verhindern. Niemand will einen zweiten Lockdown, absolut niemand. Im Übrigen wäre in so einem Fall das Parlament gut eingebunden.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Kanzler?
Das Verhältnis ist gut, professionell. Wir verhandeln regelmäßig, das ist eine meiner Kernaufgaben: Es geht bei den Diskussionen auch ans Eingemachte, aber sie sind stets sachorientiert.

Ideologisch wohnen Sie eher auf zwei Planeten.
Bei bestimmten Themen sind wir weit auseinander, bei anderen Themen gibt es auch Schnittmengen. Es gibt in der ÖVP Bio-Bauern und Menschen, denen der Klimaschutz ein Anliegen ist. August Wöginger sind soziale Themen ein ernsthaftes Anliegen.

Birgit Hebein, die bei den Koalitionsgesprächen im Verhandlungsteam saß, hat gesagt, wenn man Leute kennenlernt, ändern sich oft die Bilder im Kopf. Haben sich auch bei Ihnen die Bilder geändert in Sachen ÖVP?
Es ist definitiv bunter geworden. Die ÖVP hat sehr unterschiedliche Charaktere, Interessen, unterschiedliche Persönlichkeiten. Ich würde sagen, das Bild ist differenzierter geworden.