Die zupackende Art, die vielen Spitzenpolitikern eigen ist, fehlt der Kanzlerin. Ausgesprochen freundlich, zurückhaltend empfängt Brigitte Bierlein ihre Gäste in ihrem neuen Büro am Ballhausplatz. Obwohl von ihren Mitarbeitern Tischkärtchen für jeden Einzelnen vorbereitet wurden, sorgt sie sich als umsichtige Gastgeberin, ob der Tisch Platz für alle bietet.

Bierlein hat im Kanzleramt das Metternich-Zimmer okkupiert – nicht, weil sie in die Fußstapfen des berühmt-berüchtigten Staatenlenkers treten will, sondern einzig und allein der Helligkeit wegen. Sebastian Kurz hatte sich für das dunkel getäfelte, gediegene Kreisky-Zimmer entschieden.

Wer meint, Bierlein würde in dem Gespräch ihr Konzept für die ersten 100 Tage ausrollen, ist komplett am Holzweg. „Das Kanzleramt war nicht Teil meiner Lebensplanung“, sagt sie gleich. Irgendwie schien sie gehofft zu haben, dass der Kelch an ihr vorübergeht, aber dann kam doch am Tag vor Christi-Himmelfahrt der Anruf des Bundespräsidenten.

Bierlein ist keine Politikerin, sondern eine treue Dienerin des Staates. Dass sie in den kommenden Monaten Lust auf die Politik bekommen könnte, allenfalls als Alexander Van der Bellen-Nachfolgerin 2022 kandidiert, schließt sie aus. Und auch der aufmerksame Beobachter kann sich schwer vorstellen, dass die jahrelange Höchstrichterin eines Tages politisch aktiv werden könnte.

Bierlein hat sehr prononcierte Meinungen, auch klare Vorstellungen, wie sich Österreich weiter entwickeln sollte, wo die Defizite im Gemeinwohl liegen, doch behält sie ihre Ansichten für sich, weil das Schweigen ihrem Amtsverständnis als Chefin einer Übergangsregierung, die verwaltet und nicht gestaltet, entspricht.

Und so überrascht es nicht, dass das von Bruno Kreisky 1972 erfundene Pressefoyer nach dem Ministerrat ersatzlos gestrichen wird. Nicht nur, weil es nichts zu verkünden gilt. „Die innenpolitische Gestaltungsmacht liegt bei den Parteien und im Parlament, nicht bei der Übergangsregierung“, erklärt ein Insider. „Sie sieht es nicht als ihre Aufgabe an, jede Äußerung, die im Wahlkampf gemacht wird, jeden Vorschlag zu kommentieren.“

Pressekonferenzen, Interviews, Statements zu innenpolitischen Fragen werden, so die Planungen, in den nächsten Monaten eine Rarität sein, es sei denn, Außergewöhnliches passiert. Als korrekte, pflichtbewusste, ehemalige Verfassungsrichterin fremdelt sie mit den Medien, anders als ihr Vorgänger am Höchstgericht, Gerhart Holzinger, nahm Bierlein als VfGH-Präsidentin keine Einladung in die ORF-Pressestunde oder in die Zib2 an.

Die EU macht der Kanzlerin beim Bestreben, sich in politischer Enthaltsamkeit zu üben, einen Strich durch die Rechnung, denn Österreich muss wiederholt Flagge auf europäischer Ebene zeigen: beim Personalpaket, beim Brexit, bei der finanziellen Vorausschua und der Frage, wen Österreich als Kommissar bis 2024 nach Brüssel schickt.