Der Presseraum des Weißen Hauses am späten Abend Washingtoner Zeit. Donald Trump tritt zum ersten Mal nach der Wahlnacht vor Journalisten. „Wenn man die legalen Stimmen zählt, würde ich locker gewinnen“, behauptet der Präsident trocken. Die Demokraten würden versuchen, die Wahl zu stehlen, „illegale Stimmen“ würden ausgezählt. Die Medien seien Teil einer großen Verschwörung, mit dem Ziel, ihn gesetzeswidrig aus dem Amt zu jagen.

Für keine dieser Anschuldigungen kann er Beweise liefern. Das ist einfach erklärt: Seine Aussagen entsprechen nicht der Realität. Medien und Meinungsmacher reagieren mit Unglauben und heftiger Kritik, allein es überrascht wenige. Selbst einige wenige Republikaner kündigen dem Präsidenten die Treue auf. Ein eingeschworener Kern in der Partei hält Trump dennoch die Treue. Man sollte auch nicht vergessen: Fast 70 Millionen Menschen haben für ihn gestimmt.

Freilich, es ist nicht die erste Unwahrheit Trumps in den vergangenen vier Jahren. Erinnert sei nur an die offensichtliche und häufig wiederholte Lüge, dass er eine größere Zuschauerzahl bei seiner Amtseinführung 2017 hatte als Barack Obama 2009. Schon eine schnelle Recherche im Internet widerlegt diese Aussage. Es gibt Dutzend Beispiele, in denen er offensichtlich die Unwahrheit sagt. So behauptet er stets, der Trump Tower habe 68 Stockwerke. In Wahrheit sind es nur 58. Sein Lügen hat Methode: In der vom Ghostwriter verfassten Biografie „The Art of the Deal“ spricht Trump von „wahren Übertreibungen“, die wichtig für den Erfolg seien. Letztendlich ginge es nur ums Gewinnen und der Zweck heilige – frei nach Machiavelli – die Mittel.

Der lieblose Vater

Doch warum hat Trump einen fanatischen Drang nach Erfolg? Zuletzt versuchten unzählige Analysen, dieser Frage auf den Grund zu gehen. Viele starten mit der Familiengeschichte und der Rolle seines Vaters Fred. Trump Senior war ein skrupelloser Geschäftsmann, der seinen drei Söhnen nicht viel Liebe schenkte, aber die Notwendigkeit des Gewinnens ohne Rücksicht auf Verluste in die Wiege legte. Laut engeren Familienmitgliedern löste Freds Erziehungsansatz einen brutalen Konkurrenzkampf aus. Er kostete letztlich dem ältesten Bruder Fred Junior das Leben. Er starb 42-jährig an Herzversagen wegen seiner Alkoholsucht.

Verstärkt wurden Trumps Geltungsdrang und Konkurrenzdenken auf einer Militärschule, in der Drill und Schikane auf der Tagesordnung standen. Psychologen attestierten ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung auf Basis seiner Jugenderfahrungen. Doch all das erklärt nicht, warum Millionen Amerikaner einen ausgewiesenen Realitätsverweigerer zum Präsidenten haben wollen. Vielleicht liegt aber genau darin einer der Gründe: Die Erschaffung von Illusionen hat eine lange und erfolgreiche Tradition in den USA. Es gibt einen Grund, warum das moderne Konzept der Werbung für den Massenkonsum im späten 19. Jahrhundert in Chicago und New York entwickelt wurde. Die Werbeindustrie ist bis heute globaler Trendsetter.

Amerikaner sind Meister im Vorgaukeln von Realitäten, die es nicht gibt. Es war im Vergleich zu Europa historisch immer leichter in den USA, eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen und sich gleichzeitig fortwährend neu zu erfinden. Deshalb strömten Millionen Einwanderer in das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Die Parole „Go West“ aus dem 19. Jahrhundert steht letztendlich für die Weigerung, Realität anzuerkennen: Erleidet man eine Niederlage, zieht man einfach in die nächste Stadt oder den nächsten Bundesstaat und versucht es noch einmal. Darin liegt der Ursprung der amerikanischen Variante „Tu so lange als ob, bis du es geschafft hast“, die die Kultur in der Startup-Szene im Silicon Valley bestimmt und mittlerweile nach Europa überschwappt. Oder wie Gordon Gekko im Film „Wall Street“ unterstreicht: „Die Illusion wird Realität. Und je realer sie wird, desto verzweifelter wollen sie es.“

Ohne "The Apprentice" kein Präsident Trump

Aus diesem kulturellen Erbe lässt sich eine höhere Toleranzgrenze für fiktive Inszenierungen jeglicher Art ableiten. Hollywood ist nach wie vor die einflussreichste Filmindustrie der Welt. Wahlkämpfe basieren auf hollywoodreifen Inszenierungen. Trump wird oft mit P. T. Barnum („König Humbug“) verglichen, einem Zirkuspionier und Politiker, der die Unterhaltungskultur und Filmindustrie der USA beeinflusste. Medien halten in der Erschaffung einer alternativen Realität die Schlüsselfunktion inne. Deshalb sind Trump und die US-Medienkultur ein ideales Team: Beide erschaffen Illusionen und dadurch ihre eigene Realität. Ohne die Reality-TV-Show „The Apprentice“, die den gescheiterten Geschäftsmann zum Sinnbild des wirtschaftlichen Erfolges stilisierte, würde es keinen Präsidenten Trump geben. Das Gleiche würde zweifellos auf die republikanische Ikone Ronald Reagan zutreffen. Ohne seine Vergangenheit als Western-Star hätte er den Aufstieg zur Staatsspitze nicht geschafft.

Ob bewusst oder unbewusst, er eifert seinem Idol nach: US-General Douglas MacArthur. Er prägte den Satz „Im Krieg gibt es keinen Ersatz für den Sieg“. MacArthur war für subjektiven Realitätssinn bekannt. Gerne erfand er Fakten und rückte sich unangenehme Ereignisse wie seine Niederlage gegen Japan auf den Philippinen 1942 zurecht. Sein Mythos hatte jahrzehntelang Bestand.

Somit knüpft Trump mit seiner Weigerung, die Realität des Wahlausgangs zu akzeptieren, an eine US-Kultur an. Das funktioniert aber nur, solange Medien mitspielen. Mehrere Journalisten von Trumps Leitmedium „Fox News“ haben sich bereits kritisch über seine grundlosen Anschuldigungen geäußert. Jeder Meister der Illusion braucht ein williges Publikum und das notwendige Werkzeug. Beides scheint Trump nun abhandenzukommen.