Die Reformation ist mehr als Luther, aber ohne Martin Luther hätte es keine Reformation gegeben. Sie war ein europäisches Ereignis, keineswegs nur ein deutsches. Neben Wittenberg, wo Luther seit 1512 als Theologieprofessor wirkte, gab es noch weitere bedeutende Zentren der Reformation: Zürich, Basel, Bern und Genf, Nürnberg und Straßburg, Marburg an der Lahn oder auch das ungarische Debrecen, um nur die wichtigsten zu nennen. Anlässlich des Reformationsjubiläums wurde bereits 73 Städten in 14 europäischen Ländern der Titel „Reformationsstadt Europas“ verliehen, darunter Graz, Klagenfurt, St. Pölten, Steyr, Villach, Waidhofen an der Ybbs und Wien.

Das heutige Österreich war zeitweilig ganz überwiegend protestantisch, bis schließlich die Gegenreformation einsetzte und den evangelischen Glauben unterdrückte. Luthers Schriften fanden in ganz Europa Verbreitung, aber neben ihm dürfen Huldrych Zwingli in Zürich, Johannes Oekolampad in Basel, Luthers Weggefährte Philipp Melanchthon in Wittenberg, der Nürnberger Reformator Andreas Osiander, Johannes Calvin in Genf, Martin Bucer in Straßburg oder der schottische Reformator John Knox nicht vergessen werden. In Wien war es Paul Speratus, der am 12. Jänner 1522 im Stephansdom die erste reformatorische Predigt hielt, Ablass, Zölibat und Mönchsgelübde angriff und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen verkündigte.

"Luther ist nicht Maß aller Dinge"

Aufs Ganze gesehen wäre es falsch, die Reformation auf Luther und seine Theologie zu reduzieren. Theologie und reformatorischer Geist der übrigen Reformatoren sind nicht einfach danach zu beurteilen, wie weit sie mit Luther übereinstimmten oder von ihm abwichen. In Sachen Reformation und reformatorischer Theologie ist Luther nicht das Maß aller Dinge.

Dennoch kann seine historische und theologische Bedeutung kaum überschätzt werden. Kein Reformator - überhaupt kein Autor seiner Zeit - erzielte derart hohe Auflagen wie Luther, der seit seinen Ablassthesen vom 31. Oktober 1517 eine Schrift nach der anderen veröffentlichte und so seinen Konflikt mit dem Papst und der Kurie zu einem Medienereignis ersten Ranges machte. Konsequent nutzte er Johannes Gutenbergs neue Technik des Buchdrucks mit beweglichen Lettern. Seiner Medienpräsenz, die ihm die Deutungshoheit über die theologischen und kirchenpolitischen Debatten verschaffte, wusste die römische Kirche nichts entgegenzusetzen.

Konflikt um Wahrheit des Glaubens

Bestritt Luther anfangs nur die Möglichkeit des Papstes, Strafen im Fegfeuer zu erlassen, so verwarf Luther schon bald überhaupt die Lehre vom Fegfeuer und dem Schatz der guten Werke der Heiligen. Folgerichtig eskalierte der Ablassstreit zu einem die ganze abendländische Christenheit erfassenden Konflikt um die Wahrheit des Glaubens und die wahre Kirche, in welchem sich Luther die führende Rolle als von Gott berufener Gegenspieler des Medici-Papstes Leo X. zuschrieb, den er schließlich zum Antichristen erklärte.

Seine Anhänger sahen in ihm eine apostel- und prophetengleiche Gestalt, und tatsächlich nahm Luther für sich in Anspruch, das unverfälschte Evangelium, wie es die Bibel bezeugt, zu verkündigen. Seine Bibelübersetzung ist in ihrer Sprachmächtigkeit bis heute unübertroffen. Luther hat sich freilich nie auf irgendeine persönliche Offenbarung berufen. Allein die Schrift galt ihm als Quelle und Norm aller kirchlichen Lehre, wobei der Wittenberger Professor für Bibelexegese der festen Überzeugung war, dass sich der Sinn der biblischen Texte eindeutig erkennen lasse und es dazu keines kirchlichen Lehramtes bedürfe, weil die Schrift ihr eigener Ausleger ist.

Luther und die Gewalt

Die heutige Forschung richtet den kritischen Blick freilich auch auf die dunklen Seiten Luthers. Dazu gehört seine Judenfeindschaft, die für seine Zeit nicht untypisch war, sich jedoch in Luthers späten Lebensjahren steigerte und von den evangelischen Kirchen heute einhellig verurteilt wird. Auch mit seinen Gegnern ging der Reformator nicht gerade zimperlich um, ob es nun „Altgläubige“ waren, Täufer und „Schwärmer“ oder die Bauern, die sich durch seine Freiheitsparolen ermutigt fühlten, gegen ihre bedrückenden Lebensverhältnisse und ihre Obrigkeiten gewaltsam zu rebellieren. In all diesen Fällen scheute Luther, der in Glaubensdingen auf Gewissensfreiheit und die alleinige Macht des Wortes pochte, nicht davor zurück, zur Ausübung von Gewalt aufzurufen. Dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt sei, das Schwert zu führen und jeder Anarchie zu wehren, stand für ihn zeitlebens außer Zweifel.

Wer war dieser Martin Luther? Geboren wurde er am 10. November 1483 in Eisleben als Martin Luder. Sein Vater Hans war im Erzbergbau tätig und bestimmte seinen Sohn zum Jusstudium. Nach einem persönlichen Bekehrungserlebnis trat Luther jedoch in den Orden der Augustiner-Eremiten ein. Sein Weg führte ihn in das Kloster Erfurt, wo er Theologie studierte. 1511 wurde er in den Wittenberger Konvent versetzt. Er verließ den Orden und heiratete 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora. 1546 starb er auf einer Reise in seiner Geburtsstadt Eisleben.

Unter dem Eindruck seiner Lektüre des Römerbriefes und seiner reformatorischen Entdeckung, dass der Mensch allein aus Glauben ohne Werke des Gesetzes vor Gott und durch ihn gerechtfertigt wird, änderte er seinen Nachnamen in „Luther“. Diese Schreibweise spielt an das griechische Wort „eleutheros“ = frei an. Luther, der Freie. Dass wir durch Christus, wie Paulus im Galaterbrief schreibt, zur Freiheit befreit sind, wurde zum Cantus firmus der Theologie Luthers. Der Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Er ist zugleich ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan: Diese Doppelthese steht am Beginn der bahnbrechenden Schrift Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die 1520 erschien.

Tragische Missverständnisse

Die heutige Lutherforschung betont die Verbindungslinien zwischen dem Reformator und dem Spätmittelalter, insbesondere seine Wurzeln in der Mystik. Bisweilen entsteht der Eindruck, als sei der Bruch, zu dem es innerhalb der abendländischen Christenheit gekommen ist, die vermeidbare Folge tragischer Missverständnisse. Man kann verschiedentlich lesen, Luther würde heute als Reformkatholik durchgehen, der sich nur bedauerlicherweise radikalisiert habe. Sich radikalisieren: So spricht man heute von islamistischen Gewalttätern. Ich halte das für keinen passenden Vergleich.

Tatsächlich war Luther ein radikaler, nach dem biblischen Grund des Glaubens fragender Theologe. Seine Kritik am Ablass wie die darin sich anbahnende Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen hatte eine systemsprengende Kraft, die den Bruch unausweichlich machte. Die Sprengkraft von Luthers Theologie sollte gerade heute neu bewusst gemacht werden. In einer Zeit der religiösen Indifferenz und eines trivialisierten Christentums brauchen wir mehr denn je eine neue Form von radikaler Theologie, die leidenschaftlich nach Gott fragt und auf das Evangelium hört.