Ob sich der Innenminister bei dem Termin in Rage geredet oder in nüchternen Worten sein Unbehagen geäußert hat, ist nicht überliefert. Die Botschaft war aber eine eindeutige. Der Mann orte einen „beachtlichen Zustrom von Asylbewerbern“, was zu einem erheblichen Ausmaß der Tatsache geschuldet sei, dass der Nachbar im Osten seine Grenzen in Richtung Osteuropa und den Balkanraum unzureichend kontrolliere. Offenbar verfügten die Kontrollorgane nicht über die entsprechende Expertise, das nötige Gerät, die adäquate Ausbildung. Der Nachbar sollte sich schleunigst von der Vorstellung verabschieden, dass er in naher Zukunft in den Schengenraum aufgenommen werde. Man sehe sich gezwungen, die Grenzbalken „noch mehrere Jahre“ beizubehalten.

Beim eingangs zitierten Spitzenpolitiker handelt es sich nicht um den Österreicher Gerhard Karner, sondern um den deutschen Innenminister Manfred Kanther. In Rage gebracht hatten ihn nicht die lückenhaften Grenzkontrollen der Rumänen und der Bulgaren, sondern die aus deutscher Sicht Unfähigkeit der österreichischen Grenzbeamten, die Grenze nach Ungarn und Slowenien hin zu kontrollieren.

Deutschland blockierte Aufnahme

Drei Jahre lang blockierte Deutschland die Aufnahme Österreichs in den Schengenraum. Kanters Aussagen, die er im Sommer 1994 gegenüber österreichischen Journalisten getätigt hatten, brachte in Wien etwas später Spitzenpolitiker auf die Palme. Verkehrsminister Viktor Klima kündigte vollmundig an, Wien werde wegen der deutschen Blockadehaltung „einen Wirbel schlagen“, sobald man der EU beigetreten sei. Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel schäumte, es sei "ein Witz", wolle Deutschland die Kontrollen gegenüber Österreich wieder einführen, während sie im EU-Binnenmarkt 1992 abgeschafft worden seien.  

Im Jänner 1995 trat Österreich der EU bei, im März 1995 fielen in der Union die Grenzbalken, allerdings nicht an den Übergängen zu Österreich.

Bei einem Medientermin im Sommer 1996 bei Freilassing machten die Deutschen die Hoffnungen der Österreicher auf einen baldigen Beitritt zunichte. Sigmund Bohm, Chef der bayrischen Grenzpolizei in den Raum, ging mit den Österreichern hart ins Gericht. Dass viele Personen mit gefälschten Dokumenten durchgewunken werden, liege nicht an den fehlenden technischen Geräten, sondern „an der mangelnden Ausbildung der Österreicher.“ Die österreichischen Kollegen hätten „erhebliche Defizite bei Fahndungswissen und Fahndungshilfsmitteln.“ Ein halbes Jahr Umschulung von Zöllnern auf das Erkennen hochwertiger Fälschungen genüge nicht. Günter Krause vom Bonner Innenministerium verstieg sich sogar zu der Aussage, Deutschland werde „nicht zulassen, dass Österreich die Teilnahme an der Schengen-Kooperation zu Dumpingpreisen geschenkt“ werde. Deutschland lege großen Wert darauf, dass Österreich seine Kontrolle dem deutschen Standard anpasse. "Ob das in Österreich das Militär, der Zoll oder die Polizei macht, ist uns egal", so Krause. „Die Kontrollen müssen unseren Vorstellungen entsprechen.“ Der damalige Innenminister Edmund Stoiber listete auf, bayrische Grenzpolizisten hätten im Laufe des Jahres 1995 an der Grenze zu Österreich nicht weniger als 11.500 Festnahmen, darunter 900 Schleuser, durchgeführt, 32.000 Fahrzeuge zurückgewiesen, fast 800 gestohlene Autos sichergestellt.  

Österreich trat 1998 Schengen bei

Es folgte ein monatelanges Tauziehen, erst am 1. April 1998 trat Österreich dem Schengenraum als Vollmitglied bei, zuvor hatte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl ein Machtwort gesprochen – sehr zum Missfallen seines Innenministers, vor allem aber der Bayern, die auch deshalb auf der Bremse standen, weil bei einem Wegfall der Binnengrenze die bayrische Grenzpolizei überflüssig zu werden drohte.

Wenn es nach den Bayern gegangen wäre, hätte Österreich noch länger im Warteraum Platz nehmen müssen. Bayerns Innenminister Günther Beckstein machte sich für einen Stufenplan stark – der im Jahr 2000 geendet hätte.