Die britische Regierungskrise hat sich am Mittwoch erheblich verschärft. Nachdem Premierministerin Liz Truss bei der Fragestunde im Parlament zu Mittag einen Rücktritt abgelehnt hatte, schien am Abend die Lage außer Kontrolle zu geraten. Zuerst verlor die Regierungschefin mit dem wohl erzwungenen Rücktritt von Innenministerin Suella Braverman ihr zweites Kabinettsmitglied binnen Tagen. Dann kam es zu chaotischen Szenen bei einer Abstimmung.

Das Votum war von der Regierung zunächst zur Vertrauensfrage erklärt worden, doch ruderte sie in letzter Minute zurück. Dann hieß es, dass mehrere Mitglieder der Fraktionsführung zurückgetreten seien. Aus dem Regierungssitz verlautete aber am späten Abend, dass die für die Einhaltung der Fraktionsdisziplin zuständige Chief Whip (Chefeinpeitscherin) Wendy Morton und ihr Stellvertreter Craig Whittaker weiterhin im Amt seien.

Zurückgerudert

Dem vorausgegangen waren teils chaotische Szenen im Parlament bei einer Abstimmung, die von der Regierung zunächst als Vertrauensfrage deklariert worden war, bevor sie in letzter Minute zurückruderte.

Der Antrag der oppositionellen Labour-Partei wurde zwar mit großer Mehrheit abgelehnt. Doch viele konservative Abgeordnete sollen nur äußerst widerwillig gegen den Vorstoß gestimmt haben, der ein Gesetzgebungsvorhaben zum Fracking-Verbot einleiten sollte. Es gab auch eine ganze Reihe Enthaltungen.

Der Labour-Abgeordnete Chris Bryant und weitere Oppositionsmitglieder erhoben außerdem den Vorwurf, konservative Abgeordnete seien teilweise mit Schreien und Stößen in eine bestimmte Richtung gedrängt worden und hätten nicht frei und ungehindert abstimmen können. Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg widersprach dieser Darstellung.

Nerven zum Zerreißen gespannt

In der konservativen Fraktion sind die Nerven zum Zerreißen gespannt. Das Chaos werfe "in jeder Hinsicht ein erbärmliches Licht auf die konservative Partei und die aktuelle Regierung", sagte der Abgeordnete Charles Walker im Interview mit der BBC. Aus dieser Situation gebe es kein Zurück mehr, in seinen 17 Jahren im Parlament habe er noch nie etwas Vergleichbares gesehen. "Das ist ein Scherbenhaufen und eine Schande. Ich bin unfassbar entsetzt, ich bin wütend", so Walker.

Das Chaos überschattete den Rücktritt von Innenministerin Braverman, einer Stütze des Kabinetts. Truss ernannte den früheren Verkehrsminister Grant Shapps zum neuen Ressortchef. Erst am vergangenen Freitag hatte Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng entlassen und mit dem früheren Außenminister Jeremy Hunt ersetzt. Hunt machte am Montag fast alle Bestandteile ihrer erst Ende September verkündeten Steuerpolitik wieder rückgängig. Er kündigte an, die eigentlich für zwei Jahre vorgesehene Energiepreisdeckelung auf sechs Monate zu beschränken.

Lage für Truss spitzt sich zu

Die Lage für Truss scheint nun erheblich schlechter als noch am Tag zuvor. Die erst seit sechs Wochen amtierende 47-Jährige kämpft um ihr Amt, nachdem sie mit geplanten Steuererleichterungen ein Finanzchaos ausgelöst hatte und eine Kehrtwende hinlegen musste.

"Ich bin eine Kämpferin und keine Drückebergerin", hatte Truss noch am Mittag im Parlament gerufen, als sie wegen des Finanzchaos von der Opposition erheblich unter Druck gesetzt und zum Rücktritt aufgerufen wurde. Sie erntete heftigen Spott und Häme von den Oppositionsbänken.

Mehr Kritik kam später im Rücktrittsschreiben Bravermans. Wichtige Versprechen an die Wähler seien gebrochen worden und sie habe auch "große Bedenken hinsichtlich des Bekenntnisses dieser Regierung zu unserem Wahlprogramm, wie die Gesamtzahl der Einwanderer zu begrenzen und illegale Migration zu stoppen, besonders die gefährlichen Bootsüberquerungen", schrieb Braverman.

Härteres Vorgehen bei Abschiebungen

Die Ex-Innenministerin gehört zum extremen rechten Flügel der Partei. Sie machte immer wieder mit Äußerungen zu ihren Plänen für ein härteres Vorgehen bei Abschiebungen von sich reden. Kürzlich wetterte sie im Parlament gegen "Tofu essende" Linke.

Als Grund für ihren Rücktritt gab Braverman "einen technischen Bruch" von Geheimhaltungsregeln an. Sie habe ein offizielles Dokument von ihrer persönlichen E-Mail-Adresse an einen "vertrauten parlamentarischen Kollegen" weitergeleitet, schrieb Braverman. Viel daraus sei bereits bekannt gewesen, trotzdem sei es "richtig für mich, zu gehen". Erwartet wird nun, dass sie von den Hinterbänken aus gegen Truss arbeitet. In ihrer Antwort auf das Rücktrittsschreiben, ließ Truss wissen, es sei wichtig, die Vertraulichkeit im Kabinett zu respektieren.