Unmittelbar vor einem Besuch der EU-Spitze bei dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan hat die Unterdrückung regierungskritischer Stimmen in der Türkei einen neuen Höhepunkt erreicht. Der Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu wurde nach Aberkennung seines Abgeordnetenmandats am Wochenende verhaftet, von Polizisten krankenhausreif geschlagen und schließlich aus der Intensivstation geholt und in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Am Montag wurden bei Morgengrauen zehn pensionierte Admiräle verhaftet, weil sie sich in einem offenen Brief besorgt über die Regierungspolitik geäußert hatten. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel werden am Dienstag in Ankara erwartet, um mit Erdogan über eine Ausweitung der Zollunion und andere Anreize zu sprechen, die der jüngste EU-Gipfel der Türkei in Aussicht gestellt hat.

Gergerlioglu wurde am Freitagabend von einem Polizeiaufgebot aus seiner Wohnung geholt und vor laufenden Kameras ins Gesicht geschlagen. Nach Angaben seiner Familie wurde er auch auf dem Transport geschlagen und bedroht. Wegen verschiedener Verletzungen, Brustschmerzen und hohen Blutdrucks musste der 55-jährige ins Krankenhaus eingeliefert und über Nacht auf der Intensivstation behandelt werden; am Samstag wurde er vom Krankenhaus direkt ins Gefängnis gebracht. Gergerlioglu saß für die Kurdenpartei HDP im türkischen Parlament und prangerte die Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung an, bis er vor zwei Wochen auf Druck der Regierung seiner parlamentarischen Immunität entkleidet und aus der Volksvertretung geworfen wurde. Er soll nun zweieinhalb Jahre wegen eines Tweets von 2016 absitzen, in dem er Friedensverhandlungen mit der PKK befürwortete – das wurde ihm als Terrorpropaganda ausgelegt.

Menschenrechtsverletzungen

Gergerlioglu war 2018 ins Parlament gewählt worden und nutzte sein Mandat, um Menschenrechtsverletzungen ans Tageslicht zu bringen und den Opfern eine Stimme zu geben. Tag für Tag stellte sich der weißhaarige Arzt vor eine Parlamentskulisse und hielt Fotos und Dokumente vor die Kamera, in denen er Unrecht, Folter und Misshandlungen belegte. Die Regierung brachte er insbesondere mit seinen Enthüllungen von Polizeigewalt gegen sich auf. Innenminister Süleyman Soylu nannte ihn einen „Terroristen“, weil er damit die Polizei herabwürdige. Zu seiner Festnahme schickte das Präsidium einen Beamten, den Gergerlioglu vor zwei Jahren wegen Folterpraktiken angeprangert hatte – er war es, der ihn bei der Verhaftung ins Gesicht schlug.

Weil er für alle Opfer eintrat, gleich welcher Ideologie oder Politik, hatte Gergerlioglu auch außerhalb der Regierung nicht nur Freunde: Der kemalistischen Opposition war er suspekt, weil er sich auch für islamistische Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzte, die nationalistische Opposition lehnte ihn ab, weil er – obwohl selbst nicht Kurde – bei der Kurdenpartei mitarbeitete. Gegen seine Verhaftung und Misshandlung regte sich bei der Opposition deshalb nur schwacher Protest.

Neue Säuberungswelle

Eine neue Säuberungswelle eröffnete die Regierung am Montag mit der Verhaftung von zehn Unterzeichnern eines offenen Briefes, mit dem sich 104 pensionierte Admiräle an die Regierung gewandt hatten. Die Verfasser äußerten sich darin besorgt über mögliche Pläne der Regierung, das Montreux-Abkommen aufzukündigen, das internationale Schifffahrtsrechte im Bosporus regelt. Ein Regierungspolitiker hatte solche Spekulationen geweckt, als er kürzlich sagte, Erdogan könne die Türkei ebenso leicht aus dem Montreux-Abkommen oder der Europäischen Menschenrechtskonvention herausnehmen wie aus der Frauenschutz-Konvention des Europarats, die er vor zwei Wochen gekündigt hatte.

Die Debatte über einen Austritt aus dem Montreux-Abkommen erfülle sie mit Sorge, hieß es in dem offenen Brief der Ex-Admirale. Regierungspolitiker warfen ihnen unbotmäßige Einmischung und versuchten Umsturz der staatlichen Ordnung vor und riefen nach der Staatsanwaltschaft, die umgehend ein Ermittlungsverfahren einleitete. Das Informationsamt der Regierung wies darauf hin, dass der Brief genau 103 Tage vor dem Jahrestag des Putschversuchs vom Sommer 2016 veröffentlicht worden sei und 103 Unterzeichner habe, und leitete daraus einen Verdacht auf finstere Absichten ab, der offenbar auch von dem 104. Unterzeichner nicht zerstreut werden konnte. „Nicht nur die Unterzeichner, sondern alle, die sie ermutigt haben könnten, werden von der Justiz zur Rechenschaft gezogen“, kündigte das Amt an. Am Morgen darauf begannen die Verhaftungen.