Ein weißes Hemd mit gestickten Initialen, ein dunkler Anzug, eine edle Sonnenbrille. Nichts deutet an diesem Nachmittag in einem Wiener Innenstadtcafé darauf hin, dass Leonhard Wassiq in einem Flüchtlingslager in Neu Delhi auf die Welt kam. Als er zwei Jahre alt war, kam er mit seinen afghanischen Eltern nach Wien. Heute ist der 32-Jährige Digitalstratege im Öffentlichen Dienst, Unternehmer und Lokalpolitiker. Bei der Wien-Wahl am 11. Oktober kandidiert er für die ÖVP.

Integration ist in diesem Wahlkampf das wichtigste Thema für die ÖVP. Der Spitzenkandidat, Finanzminister Gernot Blümel, prangert „Integrationsversäumnisse in Wien“ an. Als Beleg dafür dienen ihm die gewalttätigen Ausschreitungen zwischen türkisch- und kurdischstämmigen Wienern bei Demonstrationen in Favoriten. Seit zwei Monaten beschäftigt sich die Bundesregierung damit intensiv. Innenminister Karl Nehammer ließ Hintermänner ausforschen und berichtete zuletzt von Spitzeln, die an den türkischen Geheimdienst berichtet hätten. Integrationsministerin Susanne Raab bezeichnete Favoriten als „Brennpunkt“ und richtete der Stadt aus, Wien habe „nicht verstanden, was Integration bedeutet.“

"Man muss hart durchgreifen"

In einem Marktcafé in Rudolfsheim-Fünfhaus sitzt Ahmet Bozkurt. Er ist 24 Jahre alt, hat kurdische Wurzeln, kam in Oberösterreich auf die Welt, wuchs in Salzburg auf, studiert jetzt in Wien und macht gerade ein Praktikum im Bundeskanzleramt. Im 15. Bezirk, wo jeder Zweite ausländische Wurzeln hat und 40 Prozent der Bewohner nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, will er ÖVP-Bezirksrat werden. Die Reaktion von Blümel, Nehammer und Raab auf die Demos in Favoriten findet er richtig: „Man muss gegen Unruhestifter hart durchgreifen“, sagt Bozkurt: „Jeder von denen wirft ein negatives Licht auf alle gut integrierten, fleißigen, redlichen Menschen mit Migrationshintergrund.“

Dass diese Menschen – Menschen wie Bozkurt oder Wassiq selbst – in der Wahlkampf-Erzählung der ÖVP nicht vorkommen, dass Gernot Blümel sogar die Migrationspolitik der FPÖ lobt, nehmen die beiden nicht persönlich. Heinz-Christian Strache habe ihm jahrelang von Plakaten aus zugerufen, dass er nicht nach Österreich gehöre, erzählt Bozkurt. „Die FPÖ steht für Emotionalität“, sagt er: „Die ÖVP hat einen ganz anderen Zugang, argumentiert sachlich, reflektiert und rational.“

Türkise Strategie

Eine mögliche Erklärung für den türkisen Wahlkampf liefert der Meinungsforscher Franz Sommer: Er sieht die ÖVP in Wien bei 17 bis 18 Prozent. Das liegt deutlich unter den Prognosen aller anderen Umfragen. Gegenüber der letzten Wien-Wahl vor fünf Jahren, als die ÖVP ein historisch schlechtes Ergebnis einfuhr, wäre es allerdings eine Verdoppelung. Und zwar auf Kosten der FPÖ. „Dort ist das Potenzial der ÖVP, Wähler zurückzuholen, besonders groß“, sagt Sommer. Etliche FPÖ-Wähler könne man bei dieser Wahl zur ÖVP zurückholen.

In der ersten Reihe argumentieren die Türkisen daher deutlich. „Wir haben Menschen in Wien zwar gefördert, aber zu wenig von ihnen eingefordert“, sagt Markus Wölbitsch, der nicht amtsführende Wiener Stadtrat, und kritisiert etwa einen zu laschen Umgang mit der Schulpflichtverletzung. Auch Leonhard Wassiq flog mit 15 von der Schule, erst später holte er die Matura nach und studierte Physik. „Ob Integration erfolgreich ist, hängt von den Rahmenbedingungen ab, die einem der Staat zur Verfügung stellt. Und vom Bewusstsein, das als Chance zu nutzen“, sagt er. Vor kurzem gründete er einen Verein, der Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen dabei unterstützen soll, ihre Talente zu entfalten.
Ahmet Bozkurt machte seinen Zivildienst in einem Salzburger Flüchtlingsheim und gründete während des Lockdowns ein Unternehmen. „Als Kinder von Migranten sind wir die erste Generation, die sich politisch einbringt“, sagt er.

Pioniere in der ÖVP

In der ÖVP hat diese Generation Pionierstatus. Und sie wächst beständig. Besonders die Wiener JVP hat immer mehr Mitglieder, die nicht in Österreich geboren sind, oder mit ihren Eltern Bosnisch, Türkisch, Kurdisch oder Dari sprechen. Etliche von ihnen wollen Integration auch zu ihrem politischen Thema machen: „Weil es einen ein Leben lang beschäftigt“, sagt Bozkurt.

Die ÖVP ist eine Volkspartei, und Österreicher mit Migrationshintergrund sind Teil des Volkes. Schon im Parteinamen steckt, dass sie auch uns eine Stimme gibt“, sagt Leonhard Wassiq. Auf der Landesliste wurde er auf den wenig aussichtsreichen 31. Platz gereiht.