Herr Wieser, wie haben Sie als Vagabund, der die Welt durchstreift, die Monate der Zurückgezogenheit erlebt?
LOJZE WIESER: Die Klausur war eine Herausforderung. Ich habe immer wieder klaustrophobische Anwandlungen gehabt, war viel im Garten. Am Vormittag haben wir intensiv gearbeitet, um die Liquidität und das Überleben des Verlags zu sichern. Zu Mittag habe ich dann mit meiner Frau gekocht.

Was kam auf den Tisch?
Wir haben alles aus der Speis’ und dem Garten heraus gekocht. Das war unser Anspruch. Röhrlsalat, Tagliatelle mit Pistaziensugo, Mangalitzaspeck, Nuri-Sardinen. Was sonst nötig war, haben die Kinder gebracht.

Was war Ihre Lieblingsspeise?
Polenta, Mehlsuppe, Salat.

War es bei aller Beklemmung auch eine erfüllende Zeit?
Das Virus hat mir die Gelegenheit gegeben, mir selbst den Spiegel vorzuhalten, und meine eigene Geschichte Revue passieren zu lassen. Diese sehr persönlichen Gedanken hab ich dann in einem Logbuch festgehalten.

Hat Sie die Zeit der Isolation den eigenen slowenischen Wurzeln noch einmal näher gebracht?
Ich hinterfrage die Dinge noch intensiver. Ich bin in einer Gedankenwelt angekommen, wo ich die alten Zuschreibungen, ohne die in den vergangenen 100 Jahren keine Schilderung der Lage in Kärnten auskam, als inadäquat empfinde. Man hat immer alles nur durch die nationale Brille gesehen. Ein Beispiel: Thomas Koschat, der im 19. Jahrhundert das Kärntnerlied weltweit bekannt gemacht hat, wurde von slowenischer Seite oft als Verräter bezeichnet. Ich dagegen habe mich in der Isolation gefragt, was wohl den Ausschlag dafür gegeben hat, dass er sich von seiner ursprünglichen Welt abwandte und der deutschsprachigen Kultur zugehörig fühlte.

Sind Sie weicher geworden?
Nicht weicher. Offener. Weiter. Ich verstehe die tiefe Verletztheit, aus der heraus der Vorwurf „Der hat uns unsere Lieder gestohlen“ erhoben wird. Aber mir fällt auch auf, wie ähnlich „Valossn bin i“ und „Pojdem v rute“ sind, das unsere Mutter gesungen hat. Wenn auch in einer anderen Sprache hat Koschat die slawische Tradition vieler Kärntner Lieder in seinen Melodisierungen mittransportiert.

Was folgt aus der Erkenntnis?
Mein Verständnis für Abrutschungen ist größer geworden. Jeder von uns erfährt solche Erosionen. Früher einmal hat man sie als Assimilation betitelt. Aber das waren nicht nur gewaltsame Prozesse. Das waren sozioökonomisch bedingte Formungen von Menschen, die überleben mussten und wollten. Ich würde keinen, der sich in den letzten 200 Jahren in einer anderen Sprachlichkeit wiedergefunden hat, als schuldig oder gar als Verräter bezeichnen. Aber ich würde mir wünschen, dass jede Kärntner zweisprachige Gemeinde die Möglichkeit erhält, mit einem Moderator ohne gegenseitige Vorhaltungen die Vergangenheit zu besprechen. Das würde die über Generationen tradierten Konfliktmuster durchbrechen.

Wenn heute jemand in Kärnten Ogris heißt, aber kein Wort Slowenisch mehr spricht, ist das für Sie trotzdem noch ein Slowene?
Diese Frage kann ich nicht so einfach beantworten. Wir haben in Kärnten heute eine junge slowenische Literatur von Autorinnen und Autoren, die zum Teil gar nicht im Land geboren sind. Die stammen aus Bosnien und von woanders her. Das sind Leute, die mühelos die Sprachen wechseln. Das formt auch unser Verständnis von Muttersprache neu. Trotzdem hat weiterhin jeder von uns eine Sprache als Rückgrat. Und wenn mir dieses Rückgrat gebrochen wird, dann bin ich kein Mensch mehr.

Welche Sprache ist Ihr Rückgrat?
Das Slowenische. Immer wenn es in meinem Leben um Intimes gegangen ist, habe ich mich in seine Melodik zurückgezogen. Das Slowenische ist meine Muttermilch. Das bringt mich zum Ogris zurück. Ist er Slowene? Das ist nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist, ob er das Slowenische auf Augenhöhe behandelt. Das Selbstverständnis hat zahllose Schattierungen. Ich habe von deutschtümelnden Bürgermeistern gehört, die die eigene slowenische Großmutter in der Speis eingesperrt haben, als eine ÖVP-Delegation aus Wien zu Besuch kam. Wir hatten in der Familie einen Onkel, der Heimatdienstler war. Über die ideologischen Fragen gestritten haben wir auf Slowenisch.

So komplex war es im Land. Ist das Ideologische verschwunden?
In den vergangenen zehn Jahren hat sich in Kärnten etwas verschoben. Die Leute betrachten den Sprachenstreit nicht mehr als wesentlich. Sie haben ihn satt. Denn letztlich handelt es sich nicht um eine Frage der Nationalität. Es geht um Demokratie. Jede Kärntner Gemeinde kann für sich entscheiden, ob sie mehr Ortstafeln aufstellt. Suche ich den Dialog oder halte stur am Überkommenen fest? Man muss reden, reden, reden. Das braucht Zeit. Hätten wir als Verlag nicht seit 1981 systematisch die slowenische Literatur ins Deutsche übersetzt, würde heute niemand wissen, wie ein Slowene denkt, träumt und weint.

Ist der Verlag gut über die Klippen der Pandemie gekommen?
Wir haben weitschauend Reserven angelegt. Aber wir müssen aufpassen. Der Verkauf ist komplett eingebrochen, und ich fürchte, die wahren Probleme beginnen, wenn zu Jahresende die Buchhändler die unverkauften Bücher zurückschicken. Wir sind aber gut motiviert und versuchen, unser gesamtes Programm aufrechtzuerhalten.

Sie brechen dieser Tage in die Schweiz auf, um wieder dem Geschmack Europas nachzuspüren. Hat das Virus unsere kulinarischen Wertigkeiten verändert?
Die Leute sind nachdenklicher geworden. Regionale Produkte boomen. Und die Seuche hat ein Schlaglicht auf die dunklen Seiten der Fleischindustrie geworfen. Gott sei Dank! Das ist aber nichts Neues. Upton Sinclair hat schon im Jahr 1905 über die Schlachthöfe in Amerika geschrieben. Die Missstände haben nichts mit dem Virus zu tun. Auf den Paradeisfeldern in Süditalien wird nicht erst seit Corona für Hungerlöhne geschuftet. Das sind die Abgründe unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems, das die Menschen ausbeutet.

Aber Corona hat etwas Demaskierendes gehabt. Wird es auch etwas Reinigendes haben?
Das hängt davon ab, ob wir uns weiter von Lügen blenden lassen wollen. Das geht umso leichter, als viele Menschen durch die Halbfertigprodukte, die einfach in die Mikrowelle geschoben werden, nicht mehr das Kochen beherrschen. Wir sind Zeugen eines gigantischen Kulturverlusts. Im Grunde müssten wir Schulen bauen, die uns wieder das Zubereiten, Schmecken und Archivieren alter Gerichte lehren. Unsere Mütter haben noch diese Kenntnis besessen. Ich erinnere mich an die große Freude als Kind, wenn daheim aus dem Garten die frischen in der Schale gekochten Erdäpfel auf den Tisch gekommen sind. Etwas Butter und Salz und du hast den Himmel am Gaumen gespürt.