Ein geschickter Taktiker, ein Schachspieler, der seinem Gegner immer um mehrere Züge voraus ist: Ungarns Premier Viktor Orbán ist es schon wieder gelungen, die EU dumm dastehen zu lassen. Die Kritik an seiner einst ausgerufenen „illiberalen Demokratie“ kratzt ihn ebenso wenig wie das laufende Artikel-7-Verfahren. Orbán hat, demokratisch legitimiert, die Coronakrise dafür benutzt, seinem Land eine Demokratiepause zu verpassen. Er kann, ohne das Parlament zu bemühen, per Dekret regieren – ohne klare zeitliche Begrenzung. In keinem anderen Staat war so etwas nötig, geschweige denn möglich.

Die empörten Reaktionen blieben nicht aus, vor allem aus dem EU-Parlament. Aber dort, wo man sie erwartet hätte, beließ man es bei diffusen Andeutungen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, deren Behörde als „Hüterin der Verträge“ laut Alarm schreien müsste, will zwar nun die Maßnahmen „in allen Ländern“ auf ihre Demokratieverträglichkeit prüfen lassen, das war’s aber auch schon. Eine schaumgebremste Reaktion. Zum einen, weil sie selbst nur mit den Stimmen der ungarischen Fidesz-Partei in ihr Amt kam und zumindest unter Generalverdacht steht, beide Augen beim Fraktionskollegen zuzudrücken; zum andern, weil es in Wirklichkeit gar nichts gibt, was man tun könnte. Der „Hinauswurf“ eines Landes ist technisch unmöglich, der theoretische Stimmentzug im Rat scheitert wegen des Einstimmigkeitsprinzips an Polen (das selbst ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren am Hals hat und ungeniert den EuGH abperlen lässt). Und eine Kürzung der EU-Mittel ist zwar für den neuen Finanzrahmen angedacht, aber derzeit nicht zuletzt wegen der Coronafolgen auszuschließen – abgesehen davon, dass so etwas auch gegen die Bevölkerung gerichtet wäre. Dabei gehört Ungarn zu den größten Nettoempfängern der EU.

Weder Staats- und Regierungschefs (inklusive des österreichischen) noch die eigene EVP-Spitze konnten sich bisher zu einer Verurteilung durchringen. Die Schachzüge Orbáns bringen eine der Grundsäulen der EU ins Wanken – sie ist immerhin nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft.