Trotz einer Ankündigung der Hongkonger Regierung, ein umstrittenes Gesetz zur Auslieferung mutmaßlicher Straftäter an China auf Eis zu legen, zog am Sonntag ein riesiger Protestzug durch die Finanzmetropole, dem sich nach Angaben der Organisatoren fast zwei Millionen Menschen anschlossen. Die Polizei, die die Teilnehmerzahl in der Regel extrem niedrig angibt, schätzte dagegen 338 000 Demonstranten. Andere Beobachter sprachen von einem noch größeren Marsch als am vorherigen Sonntag, bei dem nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen Hunderttausenden und einer Million Hongkonger gegen das Vorhaben der Regierung demonstriert hatten.

Die weitgehend schwarz gekleideten Demonstranten forderten, dass die Peking ergebene Regierungschefin der Stadt Carry Lam das Gesetzesvorhaben ganz aufgibt und außerdem zurücktritt. Es sind damit die größten Demonstrationen in Hongkong seit dem Protest gegen die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking vor drei Jahrzehnten am 4. Juni 1989.

Lam hatte am Samstag ein Gesetz auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt, das eine Auslieferung von Beschuldigten an China ermöglichen sollte. Dagegen hatte es massive Proteste gegeben. Menschenrechtler werfen China willkürliche Festnahmen, Folter und fehlenden Rechtsbeistand für Angeklagte vor. Als Sonderverwaltungszone genießt Hongkong einen hohen Grad an Autonomie und hat Freiheiten, die im chinesischen Kernland tabu sind.

Am Sonntag entschuldigte die in Bedrängnis geratene Lam sich schließlich bei den Bürgern der Stadt. Sie wolle "aufrichtig und demütig" Kritik annehmen und Verbesserungen im Dienste der Öffentlichkeit erzielen, hieß es in einer Mitteilung von Lam am Sonntag. Die Regierung habe verstanden, dass viele Menschen aus "Sorge und Liebe" zu Hongkong gegen das Gesetz auf die Straße gegangen seien. Am Donnerstag hatte Lam die Proteste noch als "Aufruhr" und "eindeutig organisiert" bezeichnet. Für diese Äußerungen oder die Polizeigewalt entschuldigte sie sich nicht.

Die heute 62-Jährige ist seit Juli 2017 im Amt. Sie ist die erste Regierungschefin in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Den Amtseid nahm ihr Chinas Präsident Xi Jinping ab. Peking drückte am Samstag für die Entscheidung Lams "Unterstützung, Respekt und Verständnis" aus, wie es in einer Mitteilung des chinesischen Außenministeriums hieß.

Am vergangenen Wochenende hatten nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen Hunderttausenden und einer Million Hongkonger gegen das Vorhaben der Regierung demonstriert. Danach kam es am Mittwoch zu schweren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, bei denen 81 Menschen verletzt wurden.

"Ich denke, die Mehrheit der Menschen in Hongkong wird eine vorübergehende Aussetzung nicht akzeptieren", sagte Demonstrant Thomas Hong, der seit Tagen an einem Hungerstreik vor dem Hongkonger Regierungssitz teilnimmt.

Demonstrant stürzte von Gerüst in den Tod

Bei den anhaltenden Protesten ist unterdessen ein Demonstrant in den Tod gestürzt. Die Polizei der chinesischen Sonderverwaltungszone teilte auf Anfrage am Sonntag mit, dass es sich um einen Selbstmord gehandelt habe.

Wie lokale Medien berichteten, war der Mann am Samstag auf ein Baugerüst an einem Einkaufszentrum geklettert, wo er zunächst Protestbanner gegen das Gesetz für Auslieferungen an China und Regierungschefin Carrie Lam anbrachte.Nachdem er mehrere Stunden auf dem Gerüst ausharrte, kletterte er über die Brüstung und stürzte in die Tiefe. Zuvor versuchten Rettungskräfte den 35-Jährigen zu überzeugen, herunterzuklettern. Auf Fotos ist ein gelbes Luftkissen zu sehen, dass die Feuerwehr vor dem Gerüst entfaltet hatte. Hongkonger legten später Blumen vor dem Einkaufszentrum nieder.