Die Lage ist sichtbar ernst: Der Brexit-Chefverhandler der EU, Michel Barnier, hat es am Freitag einmal mehr klar ausgesprochen: Die Verhandlungen über einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU könnten auch scheitern. "Wir müssen uns auf alles einstellen, auch auf No Deal", also auf keine Einigung auf ein Abkommen, erklärte Barnier  beim Ratstreffen in Brüssel. Bis Dezember, sagte er weiter, werde Klarheit herrschen, ob es zu einer Vereinbarung kommt oder die Verhandlungen scheitern.

Die EU fordert von Großbritannien eine Auffanglösung für die Irland-Grenzregelung als Bedingung für den Austrittsvertrag. "Ohne Backstop (Auffanglösung, Anm.) haben wir keinen Deal", sagte der EU-Minister und amtierende EU-Ratsvorsitzende Gernot Blümel (ÖVP) am Freitag nach Beratungen der 27 EU-Staaten zum Brexit in Brüssel.

Es sei wichtig, bis Oktober zu einer Einigung mit Großbritannien über den Austrittsvertrag und zu einer politischen Erklärung über die künftigen Beziehung zu kommen, sagte Blümel. Die Verhandlungen müssten bis dahin beschleunigt werden.

Zum einen beschäftigt sich der Rat mit dem „Weißbuch“ von Theresa May zu den Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU nach dem Ausstieg der Briten. Wie es in Brüssel heißt, sei man dankbar dafür, endlich eine konkrete Unterlage auf dem Tisch zu haben, allerdings bedürfe es noch zahlreicher Klarstellungen darüber, wie sich die Briten das genau vorstellen – und natürlich, ob die EU damit auch leben kann. Bei einer ganzen Reihe von Vorschlägen, etwa was neue Zollregeln betrifft, eher nicht.

Hauptthema dürfte aber die drängende Frage nach einer Lösung für Irland sein. EU-Chefverhandler Michael Barnier, der Donnerstag Nachmittag nach dem Rücktritt von David Davies erstmals in Brüssel den neuen britischen Brexit-Minister Dominic Raab traf (mit der knappen Begrüßung: „Willkommen! Wir haben viel Arbeit“) drängt auf eine Lösung für die Grenze zwischen Irland und Nordirland, die keine „harten“ Kontrollen vorsieht. Auch die Zeit drängt, denn eigentlich sollten alle Fragen bis zum Gipfel im Oktober unter Dach und Fach sein.

Doch ob das klappt, ist fraglich. Und so räumte die EU-Kommission gestern auch ein, dass es parallel zur Arbeitsgruppe Brexit auch ein eigenes Team gibt, dass sich mit einem „No-Deal“-Szenario beschäftigt. Denn enorm viel hängt davon ab, was am 30. März 2019 tatsächlich passiert: Handel, Flugverkehr, Reisende, Zugverbindungen – alles könnte Schlag Mitternacht zum Stillstand kommen, wenn sich die Verhandlungen verzögern und es keine Vorbereitungen dafür gibt. Als sicher gilt auch das Kappen des Datenaustausches, zum Beispiel bei Bereichen wie Nahrungsmittel, Gesundheit oder Verkehr.

Kommission drängt

Die EU-Kommission legte dazu gestern ein Papier vor, indem alle Akteure (auch private Unternehmen) aufgefordert werden, die Schlagzahl zu erhöhen. Kommt es zu einer Einigung, gilt ja die Übergangsfrist bis 1. Jänner 2021. Schafft man die Einigung nicht – was in dem Papier auch als „Sturz in den Abgrund“ bezeichnet wird – dann tritt das EU-Recht schlagartig schon am 30. März 2019 außer Kraft.

Dabei gibt es noch eine weitere offene Flanke: Niemand will sich derzeit wirklich ausmalen, was passiert, wenn es im Vereinigten Königreich zu Neuwahlen kommt. So oder so, Großbritannien gilt ab kommendem Frühjahr als „Drittland“. Gernot Blümel und Michel Barnier wollen heute Nachmittag gemeinsam vor die Presse treten.

Theresa May versucht indessen, zumindest in Irland gute Stimmung zu machen. Donnerstag Abend reiste sie nach Nordirland, wo sie auch heute noch mit Wirtschaftsvertretern über die möglichen Perspektiven sprechen will. Auch May sagte, die britische Regierung bereite sich inzwischen darauf vor, dass es kein Abkommen geben könnte