Hunderttausende Menschen kamen am Samstag zur Abschlussveranstaltung des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince in Istanbul. "Ihr, die ihr die Plätze füllt, erneuert eure Hoffnung, morgen wird ein ganz neuer Tag anbrechen", rief der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP) der riesigen Menschenmenge zu. Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt mehrere Kundgebungen in der Bosporus-Metropole ab.

Einen Tag vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen präsentierte sich Ince erneut als Kandidat der gesamten Opposition - er hatte es während des Wahlkampf stets vermieden, die CHP-Parteifahne zu zeigen. Am Ufer der Marmara-Meers im Stadtteil Maltepe versammelten sich nach Inces Angaben fünf Millionen Menschen zu seiner Abschlusskundgebung. Von unabhängiger Seite war die Zahl nicht zu überprüfen. Auch Inces Kundgebungen in der Küstenstadt Izmir und der Hauptstadt Ankara hatten an den Abenden zuvor Hunderttausende angezogen.

Steigende Preise, Millionen syrische Flüchtlinge

Der CHP-Kandidat warnte, sollte Erdogan am Sonntag erneut die Wahl gewinnen, werde die Währung schwach bleiben, die Preise würden weiter steigen, und die Frage der 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei bliebe ungelöst. Wenn er aber gewinne, würden "80 Millionen Türken gewinnen! Die Türkei wird gewinnen!", rief der 54-Jährige der Menge zu, die immer wieder Rufe von "Ince Präsident" und "Recht, Gesetz, Gerechtigkeit" anstimmte.

Erdogan trat am Samstag ebenfalls in Istanbul auf, entschied sich jedoch für mehrere kleinere Auftritte in verschiedenen Stadtteilen, die jeweils tausende Menschen anzogen. Erdogan sprach Ince die Kompetenz für das höchste Staatsamt ab: "Es ist eine Sache, Physiklehrer zu sein, aber etwas anderes, ein Land zu führen. Präsident zu sein, braucht Erfahrung", sagte der langjährige Staats- und Regierungschef laut türkischen Medien mit Blick auf den früheren Lehrer Ince, der zwar seit 16 Jahren Abgeordneter ist, aber keine Regierungserfahrung hat.

Der 64-jährige Staatschef zeigte sich siegesgewiss. "Wenn Gott will, werden wir uns morgen Abend erneut versammeln", sagte er. In Anspielung auf Inces Warnung vor Wahlfälschungen sagte Erdogan: "Wir sind ein Rechtsstaat."

Die beiden brillanten Redner Ince und Erdogan hatten mit ihren Auftritten und ihrer Rivalität den Wahlkampf dominiert. Einige türkische Fernsehsender zeigten am Samstag in einem zweigeteilten Bild parallel die Kundgebungen beider Politiker. Der Staatssender TRT ignorierte Inces Massenkundgebung allerdings komplett - wie schon viele vorangegangene Wahlkampfauftritte des CHP-Kandidaten. Ince äußerte am Samstag scharfe Kritik daran und kündigte eine Gesetzreform an.

Bei den Wahlen am Sonntag wird mit einem knappen Ausgang gerechnet. Erdogan ist zwar klarerer Favorit unter den insgesamt sechs Präsidentschaftskandidaten, doch könnte er in der ersten Runde die absolute Mehrheit verfehlen. Dann müsste er am 8. Juli in die Stichwahl - vermutlich gegen Ince. Auch im Parlament droht seiner islamisch-konservativen AKP der Verlust der Mehrheit. Erdogan hat daher erstmals die Bildung einer Koalition nicht ausgeschlossen.

Der Grünen-Politiker Cem Özdemir hält bei den Wahlen in der Türkei eine Niederlage von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Partei für möglich. "Auch Anhänger Erdogans beginnen zu zweifeln, ob der Kurs des Präsidenten wirklich richtig ist", sagte Özdemir der "Rhein-Neckar-Zeitung".

In der türkischen Stadt Edirne wurde derweil eine deutsche Sängerin mit kurdischen Wurzeln festgenommen. Hozan Cane sei bei einer Wahlkampftour der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP dabei gewesen, erklärte der HDP-Politiker Murat Amil. Grund für ihre Festnahme waren kurdischen Medienberichten zufolge Beiträge in sozialen Netzwerken.

Trotz der Proteste von Bundesregierung und OSZE sind die türkischen Behörden am Samstag bei ihrem Einreiseverbot für den deutschen Wahlbeobachter und Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko geblieben. Der Linken-Politiker sagte der Deutschen Presse-Agentur am Samstagnachmittag, dass er sich weiterhin bereit halte. "Ich halte es aber für unwahrscheinlich, dass ich an diesem Wochenende noch einreisen kann." Auch das Auswärtige Amtin Berlin bestätigte, dass es keinen neuen Stand in dem Fall gebe.