In Deutschland herrscht Abschiedsstimmung, Angela Merkel geht in Rente; die Karten werden neu verteilt, vorübergehend sah es sogar nach einer grünen Kanzlerin aus. Was ist das für ein Deutschland, das da auf uns zukommt?

SIGMAR GABRIEL: Eine Kanzlerin von den Grünen wäre immer noch möglich, aber eher durch einen „Unfall“. Schaut man auf die heutigen Umfragen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die CDU mit Armin Laschet den Kanzler stellt. Aber Umfragen sind keine Wahlen, und es kann noch viel passieren. Käme es dazu, dann hätte Armin Laschet am Wahlabend dann drei Optionen. Erstens: Es reicht für Schwarz-Grün, alleine. Dann könnte es sein, dass Herr Lindner von der FDP den Grünen ein Angebot macht, das diese schwer ablehnen könnten: Er kann eine Wahl von Frau Baerbock in einer grün-rot-gelben Koalition anbieten. Allerdings könnte Herr Laschet auch eine Zusammenarbeit mit FDP und SPD anbieten, um dieser „grünen Ampel“ den Wind aus den Segeln zu nehmen. Schaun wir also mal, was die nächsten Wochen bringen. Denn das Schöne in der Demokratie ist doch, dass am Ende die Wähler entscheiden und nicht die Parteistrategen. 

Was bedeuten diese Veränderungen für Europa? 

Ob Armin Laschet, Olaf Scholz oder Frau Baerbock am Ende das Rennen machen, ist mit Blick auf Deutschlands Rolle in Europa nicht so entscheidend. Denn bekennende Europäer sind alle. Aber: Europa ist an einem Punkt, wo man das Scheitern nicht mehr ausschließen kann. Scheitern in dem Sinne, dass die EU international nicht mehr als ernstzunehmender Partner angesehen wird und wo andere Mächte versuchen, sich Europa zur Beute zu machen, zu spalten und zu destabilisieren. Das hat Donald Trump mit großer Freude getan, in dem er Großbritanniens EU-Austritt gefördert hat. Putin macht das mit seinen Trollfabriken, insbesondere in Ost- und Südosteuropa. Die Chinesen machen es am ausgeklügelsten: Die kaufen uns einfach. Häfen, Infrastruktur. Wir Europäer gelten heute schon als reich, aber schwach. Wenn wir Attraktivität behalten wollen, müssen wir den Binnenmarkt stärken und vor allem in jene Infrastruktur investieren, die wir für Technologieführerschaft brauchen: Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Ob Europa jemals eine militärische Machtprojektion entwickeln wird, steht in den Sternen. Aber wirtschaftlich haben wir eine Menge zu bieten. Europa ist nach wie vor der größte Binnenmarkt der Welt. 

Was raten Sie Ihrer eigenen Partei und ihren Freunden hier in Österreich?

Ich kann den österreichischen Sozialdemokraten nichts raten und das ist auch nicht nötig, denn die wissen am besten, was sie hier im Land zu tun haben. Aber ich glaube, dass es in Deutschland genügend Menschen gibt, die nicht den Eindruck haben, dass die Politik ihre Lebensverhältnisse kennt und sich um sie kümmert. Die Sozialdemokraten könnten sich doch mal Themen widmen wie dem Lebensbelangen von Krankenpflegern, von Polizisten, von Facharbeitern, von Handwerksgesellen, Technikern, Ingenieuren. Sich also wieder dem Teil der Bevölkerung widmen, die im Wesentlichen den Wohlstand im Land erarbeiten. Und auch bei dem Thema Klimaschutz gibt es Aufgaben für die Sozialdemokratie. Denn engagierter Klimaschutz wird das Leben in vielen Bereichen erst einmal teurer machen. Warum gibt es eigentlich kein Programm zum Thema „sozialer Klimawandel“? Wenn Sie in den mittleren oder unteren Einkommensgruppen zu Hause sind, dann ist die Frage, wie teuer Ihre Mietnebenkosten werden, weil das Erdgas durch eine CO2-Auflage teurer wird, durchaus interessant.

Kann die Sozialdemokratie, wie in Ö debattiert wird, von Rechts noch Wähler zurückholen, indem man in der Migrationen einen härten Kurs fährt?  In Dänemark etwa ist das gelungen.

Die Sozialdemokratie hat oft Angst vor diesem Thema. Man kann es aber auch auf eine Weise ansprechen, die nicht ausländerfeindlich ist. Denn natürlich verbinden sich mit Zuwanderung auch Probleme. Wenn man darüber nicht spricht, überlässt man sie den Rechtspopulisten und Rechtsradikalen. Die Dänische Sozialdemokratin hat zB die Frage gestellt, wo nach 30 Jahren Öffnung durch die Globalisierung, die Grenzen sind. Ich finde man darf sich der Not und dem Elend nicht verschließen, die Menschen zur Flucht treiben. Aber dass wir uns damit eine 10, 15-Jahres-Aufgabe eingehandelt haben, so viel Ehrlichkeit und Realismus sollte man schon aufbringen.