Bei der alljährlichen Siegesparade am 9. Mai auf dem Roten Platz in Moskau wird gleich zu Beginn das „Banner des Sieges“, ein Duplikat jener Fahne, die Rotarmisten 1945 auf dem Berliner Reichstag hissten, wie eine Reliquie feierlich vorgeführt. Warum bleibt dieses Ereignis nach so vielen Jahrzehnten in Russland noch immer so frisch?
Barbara Stelzl-Marx: Ich war selbst mehrmals am 9. Mai in Moskau und erlebte diese Feierlichkeiten. Vor Jahren waren noch viele Veteranen in Uniform dabei, die von wildfremden Menschen mit Blumen geehrt wurden. Der 9. Mai ist ein ganz zentraler Feiertag im Kalender geblieben. Der Überfall von Hitlers Wehrmacht auf die Sowjetunion, der Kampf gegen den Faschismus, der Sieg über das Dritte Reich spielten in der ehemaligen Sowjetunion eine große Rolle. Dieser Kampf ging als der Große Vaterländische Krieg in die Geschichte ein, in Anlehnung an den Krieg gegen Napoleon 1812. Dieser Große Vaterländische Krieg war der blutigste Krieg in der Weltgeschichte. Einer, der von Adolf Hitler von Beginn weg als Vernichtungsfeldzug geplant war, mit einem kalkulierten Mord an Millionen von Menschen.

Warum aber pflegt gerade Wladimir Putin, als Präsident Russlands, das Gedenken an diesen Krieg mit dieser Inbrunst?
Barbara Stelzl-Marx: Putin versucht die Identität in der Russischen Föderation zu stärken, ein neues Selbstbewusstsein zu schaffen. Und dazu ist der 9. Mai, der Feiertag zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht, bestens geeignet. Denn andere Errungenschaften des 20. Jahrhunderts spielen mittlerweile nur noch eine geringe Rolle. Der Kommunismus ist passé, ebenso die Revolution oder der Wettlauf im All. So kommt dem 9. Mai eine identitätsstiftende Funktion in Russland zu. Und das wird von Putin zunehmend mehr zelebriert und dient gleichzeitig auch dazu, die eigene Stärke der Weltöffentlichkeit, wie auch der eigenen Bevölkerung zu vermitteln. Die militärische Selbstdarstellung an diesem Tag passt gut in das Selbstbild.

Der Feldzug gegen Russland wurde zum blutigsten Krieg, den es bisher gab. Warum aber erhielt dieses Volk, das so viele Opfer wie kein anders zu beklagten hatte, international so wenig Mitgefühl?
Barbara Stelzl-Marx: Die aktuelle Literatur verzeichnet rund 26 Millionen sowjetische Kriegstote, die diesem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer gefallen sind, darunter mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangenen, die in den deutschen Lagern dem Tod überantwortet worden waren.

Das Los der sowjetischen Kriegsgefangenen gilt als eines der großen Verbrechen der Deutschen...
Barbara Stelzl-Marx: Ein Punkt, der wichtig ist, denn bei uns ist die Kriegsgefangenschaft besonders stark im kollektiven Gedächtnis verankert. Man denkt an die Lager in Sibirien, in deren schrecklichen Verhältnissen dann Soldaten der Wehrmacht überleben mussten, man denkt an die letzten österreichischen Kriegsgefangenen, die 1955 aus der Sowjetunion zurückgekommen sind, die es in vielen Lagern in der Sowjetunion gegeben hat. Der wesentliche Unterschied zwischen den Kriegsgefangenen im Dritten Reich und jenen in der Sowjetunion war, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen gezielt vernichtet worden sind. Von 5,7 Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen in deutschen Lagern kamen 3,3 Millionen ums Leben.

... aber warum erfuhr und erfährt das russische Volk trotz seiner großen Opfer in diesem Krieg nicht jenes Mitgefühl der Welt, das anderen zuteilwurde?
Das dürfte mit den Ereignissen nach 1945 zusammenhängen, Bei diesem Krieg im Osten sieht man, dass es auf der deutschen Seite zu einer Barbarisierung der Soldaten gekommen ist. Ein wesentlicher Grund, warum dieser Krieg besonders brutal geführt wurde, war, dass zwei totalitäre, menschenverachtende Systeme aufeinandergeprallt sind, das System Hitler und das System Stalin. Das führte zu dem hohen Blutzoll bei den Streitkräften aber auch bei der Zivilbevölkerung. Das Bündnis der Alliierten des Zweiten Weltkrieges triftete schnell nach dem Sieg über das nationalsozialistische Reich im Mai 1945 auseinander. Der Kalte Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion verdrängte jedes Mitleid mit dem nunmehrigen Gegner.

Die nationalsozialistische Propaganda sprach gerne und oft von „der Russe“, wenn es um die Sowjetunion ging. „Der Russe“ hält sich heute noch, und es hält sich die damals gestreute Behauptung, der Propagandamaschinerie Hitler sei mit dem Überfall auf Russland nur einem Überfall Stalins auf Deutschland zuvorgekommen. Also Propaganda, die bis in unsere Zeit wirkt. Kann die Erinnerungskultur bewirken, dass das tatsächliche Geschehen die Propaganda verdrängt?
Barbara Stelzl-Marx: Es geht um die generelle Frage, warum ist erinnern an das Vergangene von Bedeutung, insbesondere mit Blick auf den Holocaust, auf den Zweiten Weltkrieg, auf den Vernichtungskrieg. Erinnern schärft den Blick für das, was passieren kann, wenn Menschen ihre Menschlichkeit verlieren. Wenn es zu dieser Barbarisierung kommt, wo dann im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen gegangen wird. Das Erinnern sucht Antworten auf die Fragen, wie kann es dazu kommen, dass sich Menschen millionenfach abschlachten, dass die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten millionenfach zum Opfer wird. Was kann man tun, um heute möglichst hellhörig zu sein. Das ist alles dem Sinn entsprechend „niemals wieder“, zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Blick zurück in die Geschichte schärft den Blick auf das, was war, aber besonders auch auf das, was nie mehr sein darf.

Und genau dafür stand dieser Krieg gegen die Sowjetunion, der vor 80 Jahren mit dem Überfall begann?
Barbara Stelzl-Marx: Eine von Anfang an geplante Vernichtung, des jüdischen Bolschewismus wie es die Nationalsozialisten nannten. Ein Vernichtungsfeldzug, Hand in Hand geführt von Wehrmacht und SS, alle Bereiche erfassend. Im Umgang mit Zwangsarbeitern, von denen Millionen nach Deutschland verschleppt wurden. Das sieht man auch in den Behandlungen der Kriegsgefangenen, deren millionenfachen Tod man ganz gezielt einbezog. Das prägte auch die Art und Weise, wie brutal die Wehrmacht im Osten die Besetzung handhabte, anders als im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten. Die Deutschen waren ja in 17 Ländern Besatzungsmacht. Es ging um die Erschließung von Lebensraum im Osten für die deutsche Herrenrasse. Aber dieser Krieg dauert irgendwie für manche Menschen in Russland noch an, es sind die Nachkommen aus Beziehungen oder auch Vergewaltigungen deutscher Soldaten mit einheimischen Frauen. Diesen Frauen und ihren Kindern wurde in der Sowjetunion ein hartes Leben zuteil, sie wurden diskriminiert. Ein Thema, das bis heute in Russland ein Tabu ist.