Versteht sich die Caritas, die dieser Tage ihren 100 Geburtstag feiert, als das gute Gewissen der Republik?

MICHAEL LANDAU: Nein, die Caritas ist nicht das gute Gewissen der Republik, sondern eine Stimme der Vernunft und der Zuversicht. Wir sind Teil einer starken Zivilgesellschaft. Der Platz der Kirche muss an der Seite der Schwächsten sein. Die Erfahrung der letzten 100 Jahre sagt uns: Wir können gemeinsam etwas zum Guten verändert, es kommt auf jeden Einzelnen an.


Die Caritas lebt von den Spenden. Profitieren Sie vom schlechten Gewissen der Wohlhabenden?

Es gibt in Österreich einen guten Grundwasserspiegel der Solidarität und Nächstenliebe. Das haben wir jetzt gesehen, wo viele gesagt haben: Wir dürfen auf die Schwächsten nicht vergessen. 100 Jahre Caritas ist kein Jahr zum Feiern, weil uns  Corona auf Trab hält. Die Gesundheitskrise ist für viele Menschen zur sozialen Krise geworden. Zu viele sind gestorben, zu viele haben ihren Job verloren. Meine Erfahrung in 25 Jahre Führungsfunktion ist: Unser Tun und Lassen macht einen Unterschied. Österreich kann Krise, die Caritas kann Krise.

Wie politisch darf die Caritas sein?

Die Caritas ist weder rot noch blau, türkis, grün, pink, schwarz. Das Evangelium ist kein Parteiprogramm. Wir stehen nicht an der Seite einer politischen Partei, sondern an der Seite jener, die unsere Hilfe brauchen, und an der Seite jener, die mit uns gemeinsam eine Veränderung zum Guten möglich machen wollen. Das Evangelium ist ein Auftrag zur Veränderung, das geschieht leise, abseits der großen Bühnen. In manchen Fällen kann es bedeuten, unbequem zu sein und daran zu erinnern, dass Politik kein Selbstzweck ist. Schon das Zweite Vatikanum sagte: Man darf nicht als Liebesgabe anbieten, was der Gerechtigkeit geschuldet ist. Man muss die Ursachen bekämpfen, nicht die Symptome.

Ursachenbekämpfung ist aber schon ein politischer Auftrag?

Kardinal König hat deutlich gemacht: Die Kirche darf nicht schweigen, wo Menschen durch Menschen Unrecht geschieht. Wir dürfen uns mit der Not nicht abfinden. Unser gemeinsamer Auftrag ist, die Welt ein Stück heller, freundlicher, menschlicher, zukunftstauglicher zurückzulassen. 

Ist es in unserer globalisierten Gesellschaft kälter geworden?

Zu uns kommen heute Menschen, die sagen: Ich hätte nicht gedacht, dass ich bei euch anklopfen muss. Das ist der Corona-Krise geschuldet. Die Zeit vor 100 Jahren war infolge des Ersten Weltkriegs eine Zeit der Armut, der Entbehrung. Heute geht es uns viel besser. Ich erinnere mich, wie Obdachlosenarbeit vor 25 Jahren ausgesehen hat mit Großquartieren. Heute sieht es anders aus. Wenn ich mir etwas wünschen darf zum Geburtstag: Wir sollten den Mut und die Zuversicht stärken und nicht in den Jammermodus fallen. Nur so kommen wir weiter.

Österreich zählt zu den reichsten Ländern der Welt. Ist es nicht ein Armutszeugnis, dass es die Caritas überhaupt braucht?

Es geht uns gut, aber es trifft nicht auf alle zu.

Versagt dann nicht der Staat?

Ich warne davor, alles an den Staat abschieben zu wollen. Das ist nicht unser Zugang. Das ist nicht nur die Verantwortung der Politik, sondern der Gesellschaft. Wenn Einsamkeit eine der großen Nöte unserer Zeit ist, dann wünschen wir uns einen Pakt gegen die Einsamkeit. Das ist jeder Einzelne gefordert. Es braucht ein breites Bündnis. Wir sind in eine Schicksalsgemeinschaft hineinverwoben, aus der keiner ausgeschlossen werden, aus der keiner sich davonstehlen darf.

Ist aus Sicht der Caritas die Frage der Aufnahmefähigkeit im Kontext der Migration eine legitime?

Auch Papst Franziskus geht darauf ein. Wer sich die Zahlen ansieht, weiß, dass nur ein sehr geringer Teil, der Schutz sucht, nach Europa kommt. Der Großteil bleibt in der Herkunftsregion. Die Frage ist legitim.

Fehlt der aktuellen Regierung das soziale Gewissen?

Jede Regierung ist gefordert. In meiner Rolle als Caritas-Europapräsident bin ich überzeugt, dass es keine italienische, spanische, österreichische Einzellösung gibt, sondern nur eine europäische. Wir müssen noch viel mehr bei den Ursachen ansetzen. Solange Krieg herrscht, werden sich Menschen auf den Weg machen. Auch die Klimakrise wird dazu beitragen.

Es gibt viele Arbeitslose, aber auch viele offene Stellen. Darf man an der Schraube der Zumutbarkeit drehen? 

Rekordarbeitslosigkeit erfordert Rekordverantwortung. Es fehlt nicht an der mangelnden Willigkeit, sondern am Fehlen von geeigneten Jobs. Man muss die Debatte behutsam führen, wenn etwa auf eine freie Stelle zehn Arbeitssuchende kommen. Arbeit, von der man leben kann, ist die beste Form sozialer Absicherung. Wir wollen immer, dass die Leute auf eigenen Beinen stehen. Es muss lebbare Lösungen geben.

Der Kanzler wollte der Kirche das Geld abdrehen. Ist der Konflikt bereinigt? Oder bleiben Narben zurück?

Das betrifft ja nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die israelitische Glaubensgemeinschaft oder die evangelischen Freunde. Es gibt ein gemeinsames Rechtsfundament, alle wäre davon betroffen. Die Republik kann über alles nachdenken, die Debatte sollte nicht verkürzt geführt werden. Bei den kirchlichen Schulen ist es so, dass der Staat die Lehrer zahlt, die Kirche für das andere Personal, die Instandhaltung aufkommt. Das Privileg der Religionsgemeinschaften besteht darin, dass sie einen Teil der Kosten tragen. Der Rechnungshof hat festgehalten, dass die Ordensspitäler effizienter, billiger geführt werden. Wenn der Bund meint, es soll künftig die öffentliche Hand machen, wird es teurer für den Steuerzahler.

Sie sind als Kardinal im Gespräch. Wollen Sie es werden?

Nein.

Wenn der Papst anderer Ansicht ist?
Die Aufgabe, die mir übertragen wurde, ist die schönste Aufgabe, die ich mir vorstellen kann. Ich will keine andere.