Der wohl ungewöhnlichste Wahlkampf seit 1945 mündet in diesen Tagen in seine heiße Phase. Zwar ist Wien mit Plakaten vollgepflastert, wackelige Dreiecksständer verschandeln die Einfallstraßen. Wegen Corona unterbleibt die Tour der Spitzenkandidaten durch Gemeindebau, Alten- und Pflegeheime, was vor allem die SPÖ, die in Wien noch über ein dichtes Netzwerk verfügt, schmerzt. Auch wurden alle Wahlveranstaltungen ersatzlos gestrichen. Noch stärker als bisher verlagert sich der Wahlkampf ins Mediale. Bürgermeister Michael Ludwig kurvte für ein Sonntagsblatt einen Tag in oranger Montur mit der Müllabfuhr durch Floridsdorf. Heute Abend um 20.15 Uhr duellieren sich die Kandidaten auf ATV in den Gondeln des Riesenrads.

Schwankungsbreite von zwei Prozent

Eine besondere Herausforderung stellt die Wahl für den Hochrechner der Nation, Christoph Hofinger, dar. „Das ist die schwierigste Prognose seit der Bundespräsidentenstichwahl.“ 40 Prozent dürften ihre Stimme mittels Wahlkarte abgeben. Früher gaben in erster Linie betuchte Zweitwohnungsbesitzer oder Studenten ihr Kuvert am Postamt auf, das hat sich nicht erst seit Corona geändert. Erschwert wird die Prognose, weil unklar ist, ob diesmal nicht auch Pensionisten aufs Homevoting setzen. Bei der ersten Hochrechnung am Wahlabend in genau zwei Wochen am 11. Oktober geht Hofinger von einer Schwankungsbreite von 1,5 bis zwei Prozent aus.

Rekordvorsprung vor dem Zweitplatzierten

Begünstigt werden die Wahlforscher durch die Ausgangslage. Im Prinzip ist das Match um Wien gelaufen, sogar die Plätze sind mehr oder weniger vergeben. Nach der selbst verschuldeten Implosion der FPÖ steuert SPÖ-Chef Ludwig auf einen ungefährdeten Start-Ziel-Sieg zu – mit einem Rekordvorsprung von 20 Prozent auf den Zweitplatzierten, die ÖVP. Alle Umfragen gehen von Zugewinnen für die SPÖ aus. 2015 sackte die SPÖ unter Michael Häupl auf 39,6 Prozent ab. Der ÖVP-nahe Wahlforscher Franz Sommer sieht die SPÖ bei 43 bis 44 Prozent, die ÖVP bei bescheidenen 15 bis 16 Prozent.

Grenzen des Kurz-Effekts

Auch bei den Türkisen wachsen die Bäume nicht in den Himmel, der Sebastian-Kurz-Effekt stößt an Grenzen. Andere Meinungsforscher trauen der ÖVP mehr zu (um die 20 Prozent), das viel beschworene Szenario, eine türkis-grün-pinke Dirndlkoalition könnte am 11. Oktober die SPÖ vom Thron stoßen und nach 100 Jahren das erfolgreiche Experiment des roten Wien beenden, existiert nur noch als Schreckgespenst in der Parteizentrale der Wiener SPÖ. Dass Ludwig in zwei Wochen eine Absolute einfährt (rund 48 Prozent der Stimmen reichen), scheint unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich zu sein. Seit 2016 konnten alle Landeshauptleute ihren Amtsbonus bei Regionalwahlen voll ausspielen – man denke an den Wahltriumph von Peter Kaiser, Hans Peter Doskozil, Hermann Schützenhöfer, Günther Platter, Wilfried Haslauer. Dass ÖVP-General Axel Melchior davor warnt, es gelte Ludwigs Absolute zu verhindern, ist genauso Wahltaktik wie das Schreckgespenst der Dirndlkoalition.

Belastungsprobe für die Koalition

Wenig Grund zum Feiern werden wohl die Freiheitlichen haben, die 2015 unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise rekordverdächtige 30,8 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten und derzeit bei elf bis zwölf Prozent vor sich hingrundeln. Offen ist, ob Heinz-Christian Strache die Fünf-Prozent-Schwelle überspringt und in den Gemeinderat einzieht. Bei den Grünen unter Birgit Hebein geht die Angst um, dass man auch diesmal vor allem in den Umfragen glänzt. Sollten die Grünen am Wahlsonntag stagnieren, könnte es ruppig in der türkis-grünen Bundesregierung werden.

Corona als Unwägbarkeit

Die große Unwägbarkeit bleibt Corona, konkret die Entwicklung in den kommenden zwei Wochen. Aktuell stagnieren die Infektionszahlen auf höherem Niveau. Derzeit sieht es jedenfalls so aus, als würde das Chaos in Wien an Schulen, bei den Tests, der Kontaktverfolgung weniger der Stadtregierung als vielmehr der Bundesregierung, also Kanzler, Gesundheits- und Bildungsminister angelastet werden.