Seit ich dich kenne war dein Antlitz gezeichnet von den Geistern einer blutigen Vergangenheit, die es um jeden Preis zu vergessen galt. Deine alten Fassaden, vernarbt von Kugeln und Granatsplittern, verschwinden hinter bunten Schildern und Reklamen. Ruinen, die ihre Ruhe in Jasmin- und Orangenbäumen gefunden haben, die wie grüne Adern durch Risse im Gemäuer das Sonnenlicht suchen, spiegeln sich in Glaspalästen, als würden sie nur darauf warten, von ebensolchen ersetzt zu werden.

Niemand hat je versucht, dich auferstehen zu lassen, so wie du warst, bevor aus Gassen und Straßen Schützengräben wurden; bevor die roten Ziegel deiner Dächer im Nebel des Krieges verschwanden; bevor du, Hauptstadt des Libanon, zum Archipel verfeindeter Milizen wurdest. Das Blut deiner Vergangenheit wurde im Beton des Fortschritts ertränkt.
Man hat so viel höher gebaut, und so viel tiefer gegraben, dass nur wenig noch der Stadt gleicht, von der alle meinen, dass du sie einst warst. Beirut, Paris des Nahen Ostens, wo sie hinkamen, aus Ost und West, um zu singen, zu tanzen, zu feiern. In jedem Haus, wo Menschen wohnen, die zu wissen glauben wie du einst warst, finden sich Bilder von diesem magischen Ort. Müde Erinnerungen an eine goldene Zeit. Du bist das Abbild deiner Kinder. Du schwelgst in Nostalgie, aber lebst im Vergessen.

Welch' ein Leben im Vergessen!

Und welch’ ein Leben im Vergessen! Geschäftige Tage zwischen blechernen Flüssen und ratternden Motoren, in schillernden Bankgebäuden oder prächtigen Universitäten; lange Nächte, getränkt in Arak und dröhnender Musik; Wochenenden am Meer, in den Bergen, oder gleich beides auf einmal, um heimzukehren in eine Stadt, die nie schläft, außer, wenn das Licht ausgeht, und der Generator nicht anspringt.
In dir leben, ist, sich deinem schäumenden Sog hingeben; ein Wirbel, der alles zu vermischen scheint, was sich innerhalb deiner Stadtgrenzen findet. An deinen Straßen berühren sich Moscheen, Kirchen und Tanzcafés; Gewürzhändler und Zuckerbäcker die nach Rosenwasser duften und glitzernde Vitrinen mit glänzenden Schuhen aus Italien. Kurze Röcke streifen lange weißen Kaftans und schnittige Designeranzügen; der Geruch von Kaffee mit Kardamom mischt sich mit teurem Parfum, und jener Aura von Benzin und Abgas, die man nur in Städten findet, die seit Jahren keine Straßenbahnen mehr gesehen haben. Doch unter dem Strudel der Gegenwart liegt eine geheime Stadtkarte, gezeichnet als du erstarrt warst zwischen Fronten und Checkpoints.

Reste von Stacheldraht und Bunkerbauten; von Barrieren aus Sandsäcken am Straßenrand, die sich beschämt im Gestrüpp und Mülll verstecken zu scheinen; Häuserecken, an denen Symbole der Milizen prangen, die heute als Parteien im Parlament und den Institutionen sitzen, und dem Staat die Mittel absaugen. Schwerter zu Pflugscharen? Nein, Waffengewalt zu triefender Korruption; Kriegsflaggen zu Wahlplakaten; Kampfesrufe zu politischen Parolen.

Frontlinien

Die Frontlinien, die einst die Einflusszonen von Milizen trennten, sind zu verborgenen Verwerfungslinien zwischen tektonischen Platten aus verdrängtem Hass und Ressentiments geworden. An diesen Linien, die deine Kinder so eifrig vergessen wollen, zerreibt sich die Nation.
Tiefe Spaltungen, sichtbar und spürbar für alle, die nicht zu verdrängen fähig sind; Teilungen, die die unsichtbaren Meister der Stadt, des Landes, der Gesellschaft sind. Lauernde Gewalt im Untergrund, gebändigt nur vom Schweiß und Schweigen deiner Kinder.

Auf der Strecke geblieben

Verlieren tun all jene, die im Spiel der alten Kriegsherren auf der Strecke bleiben. Man sieht sie, die Verlierer, auf deinen Straßen, in deinen Vororten, in deinen Hinterhöfen, wo sie schuften, um den trügerischen Glanz deiner Zukunft aufrechtzuerhalten.

Eines Tages im Oktober, dann, wurde es alles zu viel. Dein Strudel kam zum Erliegen. Das wackelige Staatsgerüst erlag schlussendlich der Gier der alten Herren. So viele waren auf der Strecke geblieben, dass sie mit erhobenen Fäusten ein morsches System in Frage stellten.
Zu viel gestohlen, zu viel gelogen. Vom Fortschritt des Vergessens war der Lack abgefallen. Fort mit den Dieben, riefen sie auf deinen Straßen, und zum ersten Mal seit Langem, gab man sich die Hand – nicht zum Geschäft, sondern zum Schwestern- und Brudergruß. Ein geeinter Libanon, der nicht mehr vergessen wollte, der die lebende Erbschaft seiner blutigen Vergangenheit in Solidarität und Gemeinschaft zu ersticken suchte.

Neue Fronten erstanden in deinen Straßen. Diesmal zwischen deinen Kindern, und den diebischen Dämonen deiner Vergangenheit, die sich hinter hohen Betonmauern und Reihen aus Uniformen mit Schlagstöcken zu schützen versuchten. Das Bouquet von Kaffee, Parfum und Benzin wich dem bissigen Gestank von brennenden Reifen, dem stechenden Dunst von Tränengas und Pfefferspray.

Musik und Motoren verstummten, als das rhythmische Trommeln einer Bevölkerung, die aufsteht, auf deinen Plätzen Einzug hielt. Hoffnung für eine wahrhaftig bessere Zukunft und Angst vor der Rückkehr des Vergessens standen sich gegenüber, in deinen Straßen, deinen Gassen. Und dann, auf einmal, mussten alle Masken tragen.
Ein Virus hatte die Rufe der Veränderung zum Schweigen gebracht. Vorerst, sagten deine Kinder. Ruhe war eingekehrt in deinen Straßen.
Die Revolution musste warten, bis man wieder frei atmen konnte. Ermutigend waren die Bilder, als der Smog des Alltags der strahlenden Quarantänesonne wich – gaben Hoffnung, in einer Zeit, als alles andere knapp zu werden schien.

Doch auf einmal, nach so vielen Jahren, musst du wieder Asche schmecken.

Die Ignoranz der alten Herren reißt ein Loch in dein Herz und zerreißt die Herzen deiner Kinder. Tränen und Blut mischen sich in den staubigen Straßen. Der letze Rest der alten roten Ziegel liegt zerschmettert in den Straßen, und bildet mit zersplitterten Vitrinen und Fensterfronten ein trauriges Ensemble. Die Geister der Vergangenheit haben dich schlussendlich heimgeholt. Wer weiß, wie sie dich diesmal wieder aufbauen?

Julian Vierlinger