Brücken verbinden. Sie überwinden Gräben und Untiefen und führen Menschen zusammen. Zugleich schlagen sie aber auch tiefe Wunden in die Natur und entweihen Mutter Erde. In seiner 472 vor Christus uraufgeführten Tragödie „Die Perser“ sieht Aischylos die Ursache für die Niederlage von Xerxes bei Salamis in der Hybris des Großkönigs, der mit der frevlerischen Überbrückung des Hellesponts die Götter herausgefordert habe.

Nicht Hochmut, aber die Machbarkeitseuphorie des italienischen Wirtschaftswunders, bestimmte die geistige Atmosphäre, in der in den 60er-Jahren in Genua der Ponte Morandi errichtet wurde. Als am 14. August 2018 der Westpfeiler des Viadukts einknickte und 43 Menschen in die Tiefe riss, war der Schock in Italien groß. Der ins Leere führende Torso wurde zum Sinnbild für den Niedergang des Landes.

Wenn am Montag feierlich die neue, von Renzo Piano geplante Brücke eröffnet wird, ist das nicht nur eine wundersame Auferstehung in Stahl und Beton. Es symbolisiert, zu welchen verwegenen Leistungen Italien allen Verwundungen zum Trotz fähig ist. Ponte San Giorgio heißt das neue Viadukt. Und so kühn, wie sein Namenspatron der Legende nach den Drachen tötete, so entschlossen will Italien die es quälenden Ungeheuer, will Korruption, lähmende Bürokratie und den dysfunktionalen Staat besiegen.

Zugleich erinnert das Bauwerk aber auch daran, dass Italien seit Urgedenken ein Land der sichtbaren und unsichtbaren Brücken ist. Pontifex Maximus, oberster Brückenbauer, hieß bei den Römern der höchste Wächter des Götterkults, der seinen Titel erst an die Kaiser, dann an die Päpste weitergab. Auf einem Brücklein überschreitet der bekannteste heidnische Pontifex, Julius Cäsar, 49 vor Chr. mit seinen Truppen den Rubikon. Am Ponte Milvio in Rom besiegt Konstantin fast 363 Jahre später Maxentius und ebnet so dem Christentum den Weg zu dessen Siegeszug. Der dicht bevölkerte Ponte Vecchio und die Rialto-Brücke geben uns eine Ahnung, warum Florenz und Venedig als Umschlagplätze von Waren und Ideen zu Zentren der europäischen Kultur aufstiegen.

Wiederum Hunderte Jahre später, 1916 im Schützengraben im Karst ist es die wehmütige Erinnerung an eine Pariser Brücke im Morgengrauen und „das endlose Schweigen eines zarten Mädchens“, das für Giuseppe Ungaretti zum tröstlichen Gegenbild zur Grausamkeit des Krieges wird. „Unsere Krankheiten verschmelzen / und wie davongetragen / harren wir aus“, heißt es im Gedicht „Nostalgia“ .

Und dann gibt es Brücken, die in voller Absicht im Nichts enden, wie jene in Carlo Scarpas monumentalem Friedhof Brion in San Vito d’Altivole. Vor dem Geheimnis des Todes kann selbst die sublimste Architektur nur demütig kapitulieren. Stefan Winkler