Zwei Jahre, neun Monate und 22 Tage Haft – das ist das Urteil, das die Richter am Donnerstag im Istanbuler Justizpalast Caglayan gegen den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel verkündeten. Die Ankläger hatten bis zu 16 Jahren Haft wegen „Terrorunterstützung“ und „Volksverhetzung“ gefordert. Yücel erfuhr von der Verurteilung durch seinen Anwalt Veysel Ok. Er selbst nahm an der Urteilsverkündung nicht teil. Yücel war im Februar 2018 nach fast einem Jahr in Untersuchungshaft, davon neun Monate in strenger Isolationshaft, freigelassen worden und konnte nach Deutschland ausreisen. Das türkische Verfassungsgericht hatte vor etwa einem Jahr Yücels Inhaftierung für unrechtmäßig erklärt. Damit sei das Recht auf persönliche Freiheit und Meinungsfreiheit verletzt worden, stellten die Verfassungsrichter fest.

Beendet ist der Fall mit dem Richterspruch aber nicht: Der Anwalt kündigte Berufung gegen das Urteil an. Außerdem gab das Gericht bekannt, dass zwei weitere Verfahren gegen Yücel laufen, wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten und des Staates.

Die Verhaftung des „Welt“-Korrespondenten im Februar 2017 führte zu schweren Spannungen zwischen Berlin und Ankara. Zehn Monate lang saß Yücel in Untersuchungshaft, ohne überhaupt zu wissen, was ihm vorgeworfen wird. Staatschef Recep Tayyip Erdogan bezeichnete den deutschen Journalisten öffentlich als „Spion“ und „Terrorist“. Später legte die Staatsanwaltschaft eine Anklage vor. Yücel habe Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK gemacht, so die Ankläger. Vorgeworfen wurde ihm unter anderem, dass er ein Interview mit dem Vizechef der PKK, Cemil Bayik geführt hatte. Damit habe Yücel die PKK als „legitime politische Organisation“ hingestellt, so die Staatsanwälte. Dass Yücel einmal vom „Völkermord an den Armeniern“ geschrieben haben soll, wertete die Anklage als „Volksverhetzung“. Den Vorwurf, Yücel habe auch Propaganda für die Gülen-Organisation betrieben, die Staatschef Erdogan für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich macht, ließen die Ankläger später wieder fallen.

Schlaglicht

Der Prozess gegen Yücel wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei. Nach dem gescheiterten Staatsstreich ermittelte die Justiz gegen 500 650 Verdächtige. Über 150 000 Staatsbedienstete wurden entlassen – nicht etwa auf Beschluss von Gerichten, sondern allein durch Dekrete von Staatschef Erdogan. Auch vier Jahre nach dem Putschversuch gehen die „Säuberungen“ weiter. Sie konzentrierten sich auf das Bildungswesen, die Justiz, den Sicherheitsapparat und die Medien. 189 Verlage, Fernsehstationen und Radiosender ließ Erdogan nach dem Putschversuch per Dekret schließen, 319 Journalisten wurden festgenommen. Heute gibt es in der Türkei nur noch eine Handvoll unabhängige Publikationen. Die meisten Verlage und TV-Sender gehören zu Konglomeraten, die von Erdogan-nahen Unternehmern kontrolliert werden.

Oppositionspolitiker sagen, dass inzwischen 95 Prozent der Medien auf Regierungslinie liegen. Diesen Prozentsatz nennt auch das International Press Institute (IPI), die älteste internationale Organisation zur Stärkung der Pressefreiheit. Alle Fäden laufen im Präsidialamt in Ankara zusammen. Von hier werden das Staatsfernsehen TRT und die Nachrichtenagentur Anadolu gesteuert. Die Medien-Regulierungsbehörde RTÜK, die alle Programme der privaten Radio- und Fernsehsender im Land überwacht, untersteht ebenfalls direkt dem Staatschef.

Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RoG) führt die Türkei in ihrer globalen Rangliste der Pressefreiheit unter 180 beobachteten Staaten auf Platz 154, weit hinter Russland, Venezuela und Pakistan. RoG spricht von einer „Hexenjagd“ auf Journalisten und nennt die Türkei eines der größten Gefängnisse für Journalisten weltweit. Nach einer Statistik des Stockholm Center for Freedom sitzen derzeit in der Türkei 82 verurteile Journalisten in Strafhaft. Weitere 95 befinden sich in Untersuchungshaft und warten auf ihren Prozess. 168 Journalisten, gegen die Haftbefehle bestehen, sind untergetaucht oder leben im Exil.

Yücels Verhaftung markierte 2017 einen Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen. Auch nach seiner Freilassung blieb das Verhältnis allerdings gespannt. Derzeit sitzen etwa 60 Deutsche aus politischen Gründen in türkischen Gefängnissen. Dutzende weitere Deutsche werden mit einem Ausreiseverbot in dem Land festgehalten. Das Auswärtige Amt in Berlin warnt in seinen Reisehinweisen: „Deutsche Staatsangehörige werden weiterhin willkürlich festgenommen, mit einer Ausreisesperre belegt, oder ihnen wird die Einreise in die Türkei verweigert.“ Vor allem im Zusammenhang mit „regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien“ oder wegen „Präsidentenbeleidigung“ drohe Strafverfolgung, warnt das Auswärtige Amt. Sogar ein unbedachtes „Like“ eines kritischen Beitrags kann schlimme Folgen haben. Was deutschen Touristen in der Türkei droht, zeigt eine Ansage des Innenminister Süleyman Soylu: Wer in Deutschland zu „Versammlungen von Terrororganisationen“ gehe und dann in der Türkei Urlaub mache, werde gleich am Flughafen festgenommen.