Rund 50 Schüler sitzen an diesem Vormittag im Festsaal der AHS Zirkusgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk und lauschen einem Mann, der hier vor 80 Jahren ebenfalls Schüler war. Der 95-jährige Zwi Nigal - ein agiler Mann mit spitzbübischem Lächeln und klarer Stimme - hat vor ihnen Platz genommen, um zu erzählen, warum er die Schule mit 16 verlassen und nach Palästina flüchten musste. „Das letzte Mal war ich in diesem Gebäude so aufgeregt wie jetzt, als mir eine Mathe-Prüfung bevorstand“, sagt Nigal lachend und die Schüler lachen mit ihm. Dann beginnt er zu erzählen.

1923 kommt er als Hermann Heinz Engel - Sohn einer Krankenschwester und eines Bahnangestellten - in Wien zur Welt. „Wir waren eine jüdische Mittelschicht-Familie“, erinnert sich Nigal. Bereits früh erfährt er vom Hass auf Juden. Seinem Vater wird eine Beförderung verweigert mit der Begründung: Die Bahn könne keinen Juden zum Chef eines Bahnhofes machen. „Und das war damals noch vor dem Anschluss, also im roten Wien.“

"Die haben Möbel auf die Straße geworfen"

Doch kurz danach, im März 1938, verändert sich Nigals Umfeld drastisch. „In den Klassen wurde das Kruzifix gegen ein Hitlerbild getauscht“, erinnert er sich. „Doch auch damals hat niemand damit gerechnet, dass die Deutschen, das Volk Goethes, Juden deportieren werden.“ Acht Monate später kommt es zu jener Nacht, die alles verändern sollte und sich heute zum 80. Mal jährt - die „Reichskristallnacht“. Der Zeitzeuge erinnert sich genau, zwei Männer von der Gestapo haben damals an der Wohnungstür geläutet. „Die sahen aus wie aus einem James-Bond-Film mit ihren schwarzen Ledermänteln“, erzählt Nigal. Sie durchsuchten die Wohnung der Familie - und gingen wieder. „Wir hatten Glück“, erinnert er sich. „Im Nachbarhaus haben die SA und die Hitlerjugend die Wohnung durchsucht - und die haben Möbel aus den Fenstern geworfen.“

Im Dezember läutet es wieder an der Tür - und diesmal hat die Familie kein Glück. Ihre Wohnung wurde einem Parteifunktionär zugeteilt. Die wenigen Möbel, die die Familie mitnehmen darf, werden auf einen Handwagen gepackt. „Unter den Zurufen der Menschen auf den Straßen, unter den Hakenkreuzfahnen sind wir gegangen und ich habe damals gedacht: Nie wieder Österreich.“

"Mein persönlicher Sieg über Hitler"

Vier Wochen danach ermöglicht dem damals 16-Jährigen ein Visum die Ausreise nach Palästina. Er verabschiedet sich von den Eltern im Glauben, sie bald wiederzusehen. „Meinen Vater habe ich damals zum letzten Mal gesehen. Er wurde in Auschwitz ermordet“, sagt Nigal, einige Schüler schauen betroffen zu Boden. Seine Mutter sieht er erst nach dem Krieg wieder. Der geborene Wiener kämpft in der britischen Armee, macht Karriere in der israelischen und wechselt später in die Industrie. Zu Wien habe er heute ein gutes Verhältnis, „seine erste Liebe vergisst man nicht“. Aber: „Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Hakenkreuzfahnen in den Straßen wehen.“ Nigal beendet seine Erzählungen mit einem Foto seiner Großfamilie. „Seht ihr das?“, fragt er stolz in die Runde. „Das ist mein persönlicher Sieg über Hitler.“ Für die Schüler, die ihm an diesem Tag an den Lippen hängen, hat er einen Tipp: „Lernt. Denn egal, was passiert, euer Wissen kann euch keiner nehmen.“

Die Oberstufenschüler der AHS Zirkusgasse sind sichtlich berührt von den Worten des Zeitzeugen. „Das war ein wahnsinniges Erlebnis, ihm zuzuhören“, schwärmt der 18-jährige Florian Wekerle. „Zu hören, dass er seinen Vater nicht mehr gesehen hat, war schlimm. Aber ich glaube, dass er mit dem Wissen, das einem keiner wegnehmen kann, recht hat.“ Dem stimmt auch Esma Ahmedi zu. „Herr Nigal beweist uns einmal mehr, dass wir uns der Vergangenheit stellen und daraus lernen müssen. Und dass man ein gutes Leben haben kann, auch wenn man Schlimmes erlebt.“

Florian, Esma und ihre Schulkollegen werden einer der letzten Jahrgänge sein, die die Chance haben, mit Zeitzeugen wie Zwi Nigal zu sprechen. Das gibt auch Esma zu denken. „Zeitzeugen sind sehr wichtig. Wenn sie erzählen, was damals passiert ist, ist das eindringlicher, als nur die Fakten aufzuzählen.“ Florian wirkt kurz nachdenklich und fügt hinzu: „Wenn Österreich seine Fehler von damals wiederholt, werden wir auch einmal Zeitzeugen sein.“