Hat das neue Buch "Pandemia", das Sie geschrieben haben, auch den therapeutischen Zweck gehabt, dass Sie sich Dinge, die sich aufgestaut haben, von der Seele geschrieben haben?

RUDOLF ANSCHOBER: Ja, es war für mich auch eine Aufarbeitung. Ich habe während des Schreibens mit Hunderten Menschen gesprochen, die von Covid-19 betroffen waren oder in Spitälern arbeiten. Dafür hatte ich als Minister meist keine Zeit. Es ist ein ziemliches Geschenk, dass so ein Prozess der Aufarbeitung möglich ist. Das brauchen wir auch als Gesellschaft, denn jeder, der in die Pandemie hineingehen musste, kam anders heraus.  

Sie haben als Minister nie ein böses Wort über den Kanzler verloren, nun hat man den Eindruck, Sie arbeiten sich am Kanzler ab.

Das Buch soll keine Abrechnung sein. Es geht darum, die Entscheidungsfindungsprozesse sichtbar zu machen. Ein Gesundheitsminister entscheidet nicht allein. Das waren teils echt mühevolle Einigungsprozesse mit dem Koalitionspartner und den Bundesländern. Das hat in manchen Phasen sehr gut funktioniert. Sebastian Kurz war in der Startphase unglaublich dynamisch, schnell, offensiver als ich. Auch dadurch haben wir den Anfang relativ gut bewältigt, Ischgl ausgenommen. Dann hat sich seine Unterstützung schrittweise verringert. Natürlich ist es so, dass ein Gesundheitsminister für den Gesundheitsschutz zuständig, der Bundeskanzler eine größere, breitere Aufgabe hat. Er muss auch wirtschaftliche Belange bedenken. Das Buch ist keine Abrechnung, sondern eine Aufarbeitung.

Der Kanzler kommt nicht gut weg. Sie schreiben: "Kommt öffentliche Kritik, habe ich den Eindruck, der Kanzler duckt sich weg." Oder: "Manchmal wirkt er auf mich, als wäre er getrieben von Umfragedaten." Sie werfen ihm vor, dass er "auf Stimmungen surft".

Ja, es gibt kritische Passagen, aber auch positive.

Wenn man weiß, dass Sie als Minister nicht einmal im Hintergrund ein schlechtes Wort über Kurz geäußert haben, ist es beachtlich.  

In einer Megakrise hat eine Regierung die Verantwortung, mit Klarheit und Einigkeit zu führen und nicht die Bevölkerung mit internen Befindlichkeiten zu belästigen.

Als im Winter die Stimmung gekippt ist, haben Sie sich oft alleingelassen gefühlt. Sie vergleichen sich im Buch mit Sisyphus.

Ich bin mir bis heute nicht sicher über die Ursachen der abnehmenden Unterstützung durch den Kanzler. Hat sich sein Gesamtinteresse verschoben, weil wirtschaftliche Belange auch gezählt haben? Oder hatte es andere Gründe? Ich hatte als Gesundheitsminister einen klaren Auftrag: den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung. Dass es da Interessenskollisionen gibt, ist keine große Überraschung.

War es das? Oder nicht vielleicht ein unterschiedliches Verständnis von Politik? Der Blick auf die Umfragen?

Dass Kurz Umfragen als wichtig empfunden hat, ist kein Geheimnis. Ich meine, dass man in einer Megakrise gut beraten ist, Kurs zu bewahren – unabhängig davon, wie sich die Stimmungslage entwickelt. 

Die Bundesländer kommen bei Ihnen noch schlechter weg als der Kanzler?

Nein, ihr Vorgehen war und ist sehr unterschiedlich. Im Frühling 2021 haben etliche Länder massiv auf Öffnungen gedrängt. Ich war damals schon ein Vertreter der These, zu früh zu öffnen sei die Basis für die nächste Welle und die nächste Notbremsung. Ich habe oft als Antwort bekommen: "Die Bevölkerung will das nicht mehr." Das Beispiel Wien hat gezeigt, dass man mit einem strengeren Kurs auch populär sein kann.  

Was haben Sie falsch gemacht?

Der größte Fehler war sicher, dass wir keine europäische Strategie geschafft haben. Wir haben nicht nur in Österreich, sondern auch in Europa einen Fleckerlteppich, wo man niemandem erklären kann, warum 50 Kilometer weiter weg die Maßnahmen andere sind. Wir brauchen in Richtung Herbst ein europaweites gemeinsames Vorgehen, mittelfristig eine Stärkung der EU-Behörden. Es wäre gescheit, dabei eine Niedrig-Inzidenz-Strategie zu verwirklichen. Wir müssen es schaffen, das Virus zu kontrollieren.

Mit einer Impfpflicht?

Das ist die letzte Option. Aber davor müssen wir durchstarten mit einem Österreich-Dialog und einer Infooffensive vor allem in den Regionen mit geringer Impfquote. Von den 30 Prozent, die noch nicht geimpft sind, sind maximal zehn Prozent fundamental dagegen. Den Rest müssen wir erreichen, dann schaut es für den Herbst gemeinsam mit einer Niedrig-Inzidenz-Strategie gut aus.

Nochmals zur Frage: Was haben Sie im Sinn der Aufarbeitung falsch gemacht?  

Ich hatte ein Riesenressort bekommen, das wollte ich auch, um Gesundheit und Sozialen zusammenzuführen. Dann ist die Pandemie gekommen. Ich habe einen Arbeitsstil, der arbeitsintensiv, dialogorientiert ist. Ich hätte entweder meinen Arbeitsstil radikal umstellen oder das Ressort verändern müssen. Wäre ich heute in derselben Situation, würde ich einen Teil des Ressorts an einen Kollegen in der Regierung abgeben. Das hätte wehgetan, aber so hätte ich mir die Kraft besser einteilen können. Das ist keine Empfehlung an den Johannes Rauch. Jeder hat seinen Stil und seine Form. Johannes wird das sehr gut machen, er ist ein Superprofi.

Müsste nicht auch das Gesundheitsministerium radikal umgebaut werden?

Wir hatten über Jahrzehnte das Dogma vom schlanken Staat. Auch im Gesundheitsministerium gab es vielfach keine Nachbesetzungen. Die Rechtsabteilung wurde ausgehungert, die Leute haben in der Krise Großes geleistet, manche haben sich das Feldbett ins Büro mitgenommen, um durcharbeiten zu können. In der Krise braucht es einen starken Staat, der schützt. Dafür braucht es aber auch die entsprechende Ausstattung.

Kann man mit dem Föderalismus eine Pandemie besiegen oder in die Knie zwingen?

Ich bin ein alter Föderalist, ich habe 16 Jahre in der Landesregierung gearbeitet. Bei der Pandemie braucht es aber weniger Klein-Klein und keine unterschiedlichen Regelungen, sondern mehr Bund und mehr Europa. Bei der Umsetzung aber sind die Länder näher bei den Bürgern.

Haben Sie den Kanzler je wieder getroffen?  

Nein, ich hätte nichts dagegen.

Im Sinne einer Aufarbeitung?  

Warum nicht? Ich setze immer auf Dialog. Wir sind unterschiedliche Generationen, haben unterschiedliche politische Zugänge.  

Wäre es in einer anderen Koalition leichter gewesen?

Das weiß ich nicht, ich habe nur die eine erlebt.

War es ein Fehler, dass Türkis und Grün zusammengegangen sind?

Nein, die Alternative wäre Türkis-Blau gewesen. Die Grünen haben in der Regierung schon viel erreicht. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Regierungsarbeit bis zum Ende der Legislaturperiode hält und das gute Regierungsprogramm umgesetzt wird. Ich habe den Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen Nehammer und Kogler eine recht positive ist, mit einem guten gemeinsamen Vertrauensverhältnis.

Dass die Grünen schon den dritten Gesundheitsminister haben, ist doch ein Armutszeugnis?

Überhaupt nicht. Ich kann nachempfinden, wie es ist, wenn man als Minister bedroht wird. Noch dazu hat Wolfgang Mückstein Kinder. Er hat einen engagierten Job gemacht.

Wäre es doch besser gewesen, jemanden in die Politik zu nehmen, der schon politische Erfahrung hatte?

Das ist eine alte Frage, die Politikwissenschaftler immer diskutieren. Was ist die Grundvoraussetzung für ein politisches Amt? Die Fachkompetenz oder politische Erfahrung?  

Was ist Ihre Antwort?

Es gibt keine endgültige Antwort. Es gibt Menschen, die von ihrer Fachkompetenz in die Politik gekommen sind, Van der Bellen war das klassische Beispiel dafür. Was würden wir in dieser Republik machen, wenn wir diesen Quereinsteiger nicht gehabt hätten?

Er hat als einfacher Abgeordneter angefangen.

Ich kann mich an seinen ersten Auftritt in einer Grünen-Sitzung erinnern. Er kam im Sakko und mit einem Koffer, also ganz ungrün für die damaligen Verhältnisse. Er bekam aus der Runde die Frage: "Wie hältst du es mit der Nato?" Sascha hat Für und Wider abgewogen. Das hat mich schwer beeindruckt, nicht inhaltlich, sondern dass sich jemand hinstellt und das sagt, was er für richtig erachtet – und nicht das, was erwartet wird.

Ist eine Rückkehr in die Politik vorstellbar?

Für mich war das Ausscheiden aus der Bundesregierung das Ende meiner parteipolitischen Karriere.

Aber nicht das Ende der politischen Karriere? Bundespräsident wäre vorstellbar?  

Ich bin ein politischer Mensch, ich werde mich immer politisch engagieren.

Und wenn Van der Bellen doch nicht antritt?

Ich bin mir ganz sicher, dass er es noch einmal macht. Er ist die Idealbesetzung. Es gibt keinen Besseren.