Frau Wiesinger, Ihre Schule und alle anderen im Land sind ins dritte Coronajahr gestartet. Wie verlief dieser Start?
SUSANNE WIESINGER: Wir haben uns alle gefreut, dass es wieder Präsenzunterricht gibt. Und wieder gehofft, dass in diesem Jahr alles besser wird. Aber diese Hoffnung hat sich schnell in Luft aufgelöst. Von Schulbeginn an haben sich die positiven und Quarantänefälle gehäuft. Und Quarantäne ist noch schlimmer als Distance Learning.

Warum?
Man vergisst, dass diese Kinder teils zwei Wochen aus der Klasse genommen werden. Wir Lehrer sind in dieser Zeit aber im Präsenzunterricht in der Schule und können sie nicht betreuen. In den Klassen herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, die Kinder fallen ständig aus ihrem Rhythmus. Und der Kontakt zu den Eltern ist in der Pandemie noch schwieriger geworden als er es vorher schon war.

Woran liegt das?
Diese Familien werden allein gelassen und wie Kranke auf eine Lepra-Insel verbannt. Wir versuchen es mit nachtelefonieren, aber da hat man dann hustende Eltern oder überforderte Kinder am Telefon.

Welche Rolle spielt hier der soziale und kulturelle Hintergrund?
Eine große. Ich gehe so weit und sage: Diese Familien sind verloren. Wenn ich putzen gehe und auf das Geld angewiesen bin, kann ich es mir schlicht nicht leisten, beim ersten Huster zuhause zu bleiben. Und ich lasse mich nicht testen, weil ich weiß, was passiert, wenn ich positiv bin. Nicht jeder ist so privilegiert, dass er sich diese Krankheit leisten kann. Diese soziale Kluft ist durch die Pandemie nicht größer geworden – sie ist geradezu explodiert.

Hat die Krise diese Familien härter getroffen als andere?
Keine Frage, das ist auch für Mittelstandsfamilien schwierig. Der Unterschied ist aber: Diese Kinder werden es schaffen. Denn das Geld für Therapie oder Sportstunden, wodurch diese Kinder Kraft schöpfen, ist da. Für unsere Schülerinnen und Schüler ist es das nicht. Ich wundere mich, warum jene, die sonst über die Diskriminierung und soziale Benachteiligung dieser Kinder klagen, so still sind. Wo bleibt der Aufschrei?

Stichwort Impfbereitschaft: Was hätte die Regierung tun müssen, um diese Familien besser zu erreichen?
Man hätte mit Leuten aus den Communities in eben diese gehen sollen. Nicht um zu belehren, sondern um zu informieren. Dann haben sie, wie alle anderen auch, das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Damit hätte man viel mehr erreicht und könnte noch mehr erreichen. Aber auch das passiert nicht.

Was bedeutet das alles für die Schülerinnen und Schüler?
Die Folgen sind schlimm. Ihnen fehlt Tagesstruktur und viele sind schwer handysüchtig. Das ist die Kehrseite vom Distance Learning. Auch soziale Defizite beobachten wir. Sie sind nicht mehr gewohnt, mit Kindern aus anderen Communities zusammenzusein. Das hat kulturelle Konflikte noch verstärkt. Und sie zeigen wahnsinnig viele Versäumnisse. Nicht nur, weil sie Lernstoff nicht beherrschen, sondern weil sie oft schwere psychische Probleme haben.

Haben die Kinder Angst?
Ja, vor allem. Vor dem Testen, der Impfung, der Krankheit und davor, jemanden anzustecken. Außerdem können sie deutlich schlechter Deutsch, weil sie zuhause nicht damit konfrontiert sind. In Deutschklassen ist die Situation dramatisch. Wie sollen es die Kinder schaffen, in nur zwei Jahren in den Regelunterricht einzusteigen? Das ist ohne Pandemie schon schwer, jetzt ist es nahezu unmöglich.

Wie kann man dem begegnen?
Das Problem ist, dass wir das vorherige System nahtlos fortführen – als hätte es Corona nie gegeben. Das ist doch verrückt. Die Verantwortlichen müssen jetzt den Mut haben, sich etwas Neues zu überlegen. Zum Beispiel das Wiederholen von Schuljahren oder mehr Zeit für den Abschluss. Denn die Situation am Arbeitsmarkt wird ja nicht besser. Oder man räumt den Schulen ein, solche Konzepte zu erarbeiten. Aber aktuell wird ihnen nicht einmal zugehört. Man hat diese Pandemie nun schon zum zweiten Mal verschlafen. Und suggeriert sogar noch, dass sie vorbei ist.

Wie fühlt es sich angesichts dieser täglichen Eindrücke an, wenn man so etwas von der Politik hört?
Zuerst waren wir wütend. Aber jetzt sagen wir uns: Ihr könnt reden, was ihr wollt. Wir wissen, dass die Realität anders ausschaut. Das Vertrauen ist weg. Das gilt übrigens für jede Partei. Wir versuchen, uns auf die Kinder zu konzentrieren und tun alles, damit sie da halbwegs durchkommen. Damit lässt man uns völlig allein. Wir weinen auch manchmal. Vor allem, wenn wir einem Kind erklären müssen, dass es positiv ist. Ich darf nicht einmal öffentlich sagen, dass ich ein positives, symptomfreies Kind, das da vollkommen panisch gesessen ist, in den Arm genommen habe. Das ist doch verrückt.

Denken Sie manchmal ans Aufgeben?
Nein. Denn wenn ich in der Schule bin, kann ich immerhin etwas tun. Wenn ich mich in ein Kammerl im Ministerium verkrieche, kann ich nur reden. Und wegschauen. Ich wollte früher viel verändern. Aber diese Pandemie hat mich bescheiden gemacht. Ich äußere meine Kritik aber weiter öffentlich, damit sich etwas ändert.

Warum tun es Ihnen Ihre Kolleginnen und Kollegen nicht gleich?
Das ist nicht leicht, denn man kann hier kaum sachlich diskutieren. Weder mit den Rechten, die instrumentalisieren, noch mit den Linken, die gleich gar nicht darüber sprechen wollen. Nach dem Motto: Wenn ich nicht darüber spreche, ist es nicht da. Das ist ein schwerer Fehler.

Was muss jetzt geschehen?
Was ich mir wünsche, ist, dass sich die Parteien endlich zusammentun und sich einen Plan für die Schulen überlegen. Was ich aber befürchte, ist, dass das Ganze wieder in einem irrsinnigen politischen Hickhack enden wird. Und sich am Ende wieder nichts ändert.