"Wir wollen keine Rache, wir wollen kein Geld verdienen, aber wir wollen eine Änderung des Systems, damit unsere Kinder endlich geschützt sind.“ Melanie P. schwankt zwischen Rage und Verzweiflung. Man sieht der Mutter der Ende Juni getöteten 13-jährigen Leonie und ihrer vier Geschwister die Wochen der Verzweiflung an. Hannes W., der Vater, erzählt, dass die älteren Geschwister sich in die Arbeit stürzen oder zu Freunden flüchten: „Welches Kind will seine Eltern schon die ganze Zeit weinen sehen?“

Sonntagnachmittag, in einem Büro in der St. Pöltner Innenstadt. Der Anwalt der Familie, Florian Höllwarth, hat drei Medien zu einem Gespräch mit Leonies Eltern eingeladen. Im Auftrag der Familie will er die Republik auf Amtshaftung klagen. Der Vorwurf: Die Behörden hätten versagt, Leonie zu schützen, weil die dringend Tatverdächtigen, afghanische Asylwerber bzw. Schutzberechtigte, teilweise trotz mehrerer einschlägiger Vorstrafen noch immer in Österreich waren. Und zwar obwohl das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen der Verdächtigen abschieben wollte – der Fall lag mehr als ein Jahr beim Bundesverwaltungsgericht.

„Keiner sagt, man soll niemanden aufnehmen, der in Not ist, aber dieser Wahnsinn muss aufhören: Wenn jemand straffällig geworden ist, noch dazu mit einschlägigen Vorstrafen, fragt man sich, wieso die da draußen noch herumlaufen dürfen – unterstützt von der MA11 (dem Wiener Jugendamt, Anm.), von einer versagenden Justiz und vom Innenministerium“, sagt die 40-jährige Mutter.

Ihr Mann ergänzt, „es ist eh okay, dass Asylwerber auf Menschenrechte pochen; aber die Leonie hätte am 26. Juni auch das Recht gehabt, in Schutz zu leben. Man kann nicht grenzenlos Schutz anbieten, aber dann hier im Land keinen Schutz mehr anbieten.“

Tochter schon am 26. vermisst gemeldet

Vom Tod ihrer Tochter, die unter Drogen gestanden und von den Verdächtigen mehrfach missbraucht worden sein soll, haben der Notfallsanitäter und die 24-Stunden-Pflegerin erst einen Tag später erfahren. „Wir haben am 26. in der Zeitung gelesen, dass eine 18- bis 25-Jährige in Wien-Donaustadt aufgefunden worden ist.“ Nicht weit von dort, wo die Familie bis vor drei Jahren gelebt hat, als sie ins niederösterreichische Tulln übersiedelt ist, „um die Kinder zu schützen“, nachdem die ältere Tochter von Tschetschenen verprügelt worden war.

Die 13-jährige Leonie auf einem Foto ihrer Eltern.
Die 13-jährige Leonie auf einem Foto ihrer Eltern. © privat

Erst nachdem Medien am 27. Juni Fotos des Opfers verbreitet hatten, wurde P. bewusst, dass es ihre Tochter war: „Ich kenn’ den Pullover, die weißen Sportschuhe, das ist die Leonie.“ Sie hatten ihre Tochter zwar schon am Vortag vermisst gemeldet, aber die Wiener Polizei hatte das – auch aufgrund der falschen Alterseinschätzung – nicht mit dem Opfer abgeglichen. Die Eltern kontaktierten die Polizei, „es war ein Chaos“, bald darauf standen Beamte vor der Tür, ein Kriseninterventionsteam – und schließlich die traurige Gewissheit.

"Ein Albtraum, der nicht aufhört"

Der Arbeit der Behörden in den vergangenen Wochen streuen die Eltern Rosen: „Denen gehört ein Orden verliehen“, so freundlich und gewissenhaft hätten die Beamten bei der Aufklärung gearbeitet, vom Wiener Landeskriminalamt bis zum Jugendamt in Tulln – und auch der lokalen Polizei, die die Familie schon zu mehreren Einsätzen rufen musste. „Die letzten Wochen waren „ein Albtraum, der nicht aufhört“, sagt die Mutter. Immer wieder habe es Anfeindungen gegen die Familie gegeben, am Tullner Bahnhof seien Sprüche wie „die Christen haben es nicht anders verdient“ gefallen.

Die meisten Reaktionen seien aber unterstützend gewesen: „Die Polizei hat angeboten, sich einfach zu melden – und war auch schnell da“, sagt der Vater.

Im Internet waren die Eltern ebenfalls angefeindet worden, etwa mit dem Vorwurf, was ein Kind allein in Wien mache. „Ich frage Sie, wie wollen Sie das verhindern? Wir wohnen gegenüber vom Bahnhof, das kontrolliert ja kein Mensch, wer einsteigt.“ Die Familie, die mit Leonie („Sie war immer selbständig, ein Freigeist“) einiges durchgemacht hatte – Jugendamt, Rettet das Kind, sogar Kinderpsychiatrie –, hatte sie noch vor Ablauf der 24-Stunden-Frist vermisst gemeldet.

"Kleine"-Redakteur Renner (r.) im Gespräch mit Leonies Eltern und Anwalt Höllwarth (m.)
"Kleine"-Redakteur Renner (r.) im Gespräch mit Leonies Eltern und Anwalt Höllwarth (m.) © Sascha Trimmel

Instrumentalisierung durch ÖVP "unterste Schublade"

Von der politischen Reaktion auf den Tod ihrer Tochter sind die Eltern bisher enttäuscht. „Unterste Schublade“ sei ein Versuch der ÖVP Wien gewesen, ohne Absprache mit ihnen mit einem Foto von Leonie Stimmung zu machen, sagt P.: „Die Leonie einfach herzunehmen, um gegen die SPÖ Wien zu schießen, das ist eine bodenlose Frechheit. Noch dazu, wo das Bundessache ist.“
Die Parlamentssitzung, in der der Fall diskutiert worden ist, hat Melanie P. ebenfalls verfolgt. „Ich fand schade, dass jeder die Schuld auf den anderen schiebt. Ich würd’ mir erwarten, dass sich die Regierung zusammensetzt und gemeinsam eine Lösung erarbeitet.“
Hannes W. fand das frustrierend: „Die FPÖ hat immerhin einen 10-Punkte-Plan vorgeschlagen; ich sage nicht, dass der genau so umgesetzt werden soll, aber ich hätt’ erwartet, dass sich die anderen zumindest damit auseinandersetzen.“

Das Büro von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat über den Anwalt einen Termin mit der Familie vereinbart, der aber wegen der Erkrankung von Kurz verschoben worden ist. Die Eltern blicken dem Termin gespannt entgegen – und wollen hören, was der Kanzler sagt.

„Wir machen das nicht für uns“, sagt W. schließlich. „Aber wir haben gesagt, wenn wir der Leonie einmal im Himmel begegnen, dann wollen wir sicher sein, dass wir alles versucht haben, dass sowas nicht wieder passieren kann.“