Seit dem Auftrag von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne), alle Straßenbauprojekte der Asfinag bis Herbst zu evaluieren, kehrt in die türkis-grüne Regierung keine Ruhe ein. Am Sonntag attestierte der Grüne Vizekanzler Werner Kogler Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der den Grünen ausrichten ließ, niemand wolle wegen Klimaschutz "zurück in die Steinzeit", in einem Interview mit der Presse "altes Denken und Politik von gestern" und vermutete, dass man sich im Kanzleramt "vielleicht zu viel mit Öl-Lobbyisten und Betonierern umgibt".

Koglers Parteikollege, der Innsbrucker Bürgermeister Georg Willi, warb zeitgleich für Rot-Grün-Pink im Bund. Er finde diese Variante "sehr interessant", sagte er im Interview mit der APA: "Die ÖVP hat mit dem Farbenwechsel auch einen inhaltlichen Wechsel vorgenommen" und sei "weiter nach rechts gedriftet", so Willi. Eine Rot-Grün-Neos-Variante würde "das Pendel wieder in die andere Richtung ziehen."

Erstmals 50 Prozent in Umfragen

Der Wunsch taucht in der linken Reichshälfte in regelmäßigen Abständen auf: Eine Koalition aus SPÖ, Grünen und Neos, ein Mitte-links-Projekt, das die die Volkspartei nach fast 35 Jahren in der Regierung (ihre Zeit dort seit 1986 wurde nur durch die parteilose Regierung Bierlein 2019/20 ein halbes Jahr unterbrochen) auf die Oppositionsbänke verbannen soll. Doch bisher blieb es beim Wunsch: Denn die politisch als links zu verortende Wählerschaft bildet keine volle Hälfte. Zumindest bisher.

Denn Umfragen von Anfang Juli prognostizierten den als progressiv geltenden Parteien gemeinsam erstmals seit mehr als 15 Jahren wieder um die 50 Prozent. Der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik beobachtet die Entwicklung seit Jahren. Er sagt: "Auch wenn es in den letzten beiden Wochen wieder Verschiebungen gab: Seit dem Frühjahr 2020 hat sich der Abstand zwischen ÖVP-FPÖ und SPÖ-Grüne-Neos dramatisch verringert."

Kumulierte Umfragewerte von ÖVP und FPÖ sowie SPÖ, Grünen und Neos.
Kumulierte Umfragewerte von ÖVP und FPÖ sowie SPÖ, Grünen und Neos. © Laurenz Ennser-Jedenastik/ Uni Wien

Bei der letzten Nationalratswahl waren SPÖ, Neos und Grüne mit 43,2 Prozent weit von einer Mehrheit entfernt. Doch die Neos liegen derzeit bei vier Prozentpunkten über ihrem Ergebnis von damals, und auch die SPÖ legte in den meisten Umfragen deutlich zu.

Doskozil als Kandidat für Progressive?

Mit einer anderen Parteispitze könnte es noch mehr sein, meinen manche Sozialdemokraten. Einer davon ist Wolfgang Zwander, der in Wien einer Sektion vorsteht und das sozialdemokratische Friedrich Austerlitz-Institut für Journalistenausbildung leitet. Zuvor arbeitete er im Kabinett von Wiens Wohnbaustadträtin Kathrin Gaal. Das Stadtratbüro ist traditionell eine Leiter nach oben: Gaals Vorgänger, Michael Ludwig, ist jetzt Wiener Bürgermeister. Vor Ludwig war Werner Faymann Wohnbaustradtrat in Wien, der aus dem Rathaus an die Parteispitze wechselte.

Dort soll künftig Hans Peter Doskozil sitzen - zumindest wenn es nach Wolfgang Zwander geht. In einem Gastkommentar für den Falter argumentiert er, dass nur so sich die Machtverhältnisse in Österreich ändern können: „Wer in unserer Republik eine progressive Mehrheit im Nationalrat will, muss dafür in Form und Inhalt Kompromisse mit der konservativen Mehrheitsmeinung finden“, so Zwander. Man dürfe sich nicht zu fein dafür sein, Politik für das „verkleinbürgerlichte Proletariat“ zu machen, um nicht den Grünen und Neos Wähler streitig zu machen, sondern ÖVP und SPÖ. Innerhalb der SPÖ gibt es nicht wenige, die Zwander Recht geben. Die SPÖ müsste „rechter“ werden, um dann mit einer linken Mehrheit regieren zu können.

Andere Farben, gleiche Reibeflächen

Den daraus entstehenden Zielkonflikt - die Koalition, die die SPÖ dann einginge, würde nicht zu den Wählern passen, die sie dazu gewinnt - bewertet der Politologe Ennser-Jedenastik nicht so schwer. Diesen Konflikt habe die SPÖ schon immer. So einfach sei die Rechnung aber trotzdem nicht: Die Wähler von ÖVP und FPÖ, auf die es die SPÖ abgesehen hat, hätten zumeist ein recht negatives Bild von der SPÖ. Und: "Das Gedankenspiel setzt voraus, dass sich die Parteien untereinander koordinieren", so Ennser-Jedenastik: "Und, dass ÖVP und FPÖ strategisch nicht auf die Veränderung reagieren."

Offen bleibt auch, ob in eine Koalition aus SPÖ-Grünen und Neos tatsächlich weniger Konfliktpotenzial hätte, als Türkis-Grün. Bei der Dauerreibefläche Migration sind die Grünen der Position Doskozils genauso fern wie jener der ÖVP. Und Klimaschutz- und Verkehrsthemen - dem Anlass für den aktuellen Konflikt - argumentieren die Neos wie die Grünen, die SPÖ allerdings hingegen auf Seite der ÖVP.