Sie haben mir vorab gesagt, Sie wollen über den Zeitgeist reden. Das klingt so, als ob die Welt verlottert ist. 
ANDREAS KHOL: Der Zeitgeist ist unglaublich einseitig. Auf der einen Seite das  Diktat des Umweltschutzes, auf der anderen Seite gibt es europaweit eine „Baisse“ für den Sozialismus und eine diffuse „Hausse“ für alles, was rechts der Mitte ist. Das ist eine völlig neue  Zeitgeist-Mischung

Sie müssten damit zufrieden sein.
Ich bin europaweit mit den Entwicklungen weitgehend zufrieden. Ich sehe im Vereinten Europa mein wichtigstes politisches Ziel. Ich werde den Europäischen Bundesstaat allerdings nicht mehr erleben.

Ist die Entwicklung zum Bundesstaat unumkehrbar?
Ja, unumkehrbar. Wir sind jetzt schon auf halbem Weg dorthin. 

Wo sind wir, wenn wir die Historie der USA bemühen?
Wir sind knapp nach der Gründung der USA; die Entwicklung geht in Wellen. Ich wohne hier in Wien in der Cuviergasse. Cuvier war ein französischer Philosoph, der der Meinung war, dass sich die Natur und die Welt in Krisen entwickelt. Europa folgt diesem Gesetz. Derzeit haben wir einen Hänger, aber dem wird auch wieder ein Fortschritt folgen.

Ist Orban am richtigen Weg?
Nein, er ist am Holzweg. Orban ist kein Konservativer mehr, sondern  ein Reaktionär. Allen Ländern, die bis 1989 vom Sowjet-Sozialismus unterjocht waren, ist es schwergefallen, die Souveränität, die sie zurückgewonnen haben, mit dem Beitritt in die Union schrittweise zu opfern. Der Brexit hat aber auch eine segensreiche Wirkung entfaltet. Es ist für niemanden attraktiv aus der Union auszutreten. Man sieht, die Folgen sind verheerend.

Gehört die Personalisierung bei Wahlen nicht auch zum Zeitgeist? Sind Parteien nicht zunehmend überflüssig?
Im Gegenteil. Parteien sind als Transmissionsriemen zwischen den Wählern und der Regierung absolut notwendig. Sie kommen nur in immer neuen Gewändern daher. Es unterscheidet sich die Neue Volkspartei von der alten Volkspartei durch größere Einigkeit, weniger Streit, eine neue Parteifarbe und eine noch stärkeren Personalisierung, und die Zurückdrängung der Bünde.

Hätte Kurz ohne die ÖVP im Rücken 2017 nicht die Wahl gewonnen?
Nein. Kurz ist ein Kind der Volkspartei. Das vergisst man immer. Bevor er die Partei übernommen hat, hat er die gesamte „Ochsen-Tour“ durch die Partei, von der Orts- über die Landes- bis zur Bundesorganisation gemacht. Er hat nichts übersprungen.

Verrät die ÖVP in der Flüchtlingsfrage ihre christlich-sozialen Wurzeln?
Das glaube ich überhaupt nicht. Die Volkspartei ist eine säkulare Partei, ihre Programmatik entstammt nicht aus dem Evangelium, sondern aus dem Beschluss des Parteitags.

Die ÖVP versteht sich „als moderne christdemokratisch geprägte Volkspartei“, so steht es im Grundsatzprogramm.
Das ist ein politisches Konzept, ja! Die Quellen, aus denen sich die Grundsätze speisen, sind mit der katholischen Soziallehre umrissen. Daneben sagt die Partei, sie ist auch offen für jene, die sich aus nicht religiösen Gründen für diese Werte entscheiden. Niemand will, dass die Bischöfe oder der Klerus die Postulate des Christentums für die Tagespolitik auslegen. Kardinal Ratzinger hat 2002 in einem Schreiben an alle Politiker, die sich zum Christentum bekennen, verlangt, eine Politik aus christlicher Verantwortung zu verfolgen. In der Flüchtlingsfrage hat der Politiker eine Verantwortung für die eigenen Leute, für die, die vom Ausland gekommen sind und bei uns integriert werden müssen, und für jene, die hereinkommen wollen. Da glaube ich, dass die ÖVP einen Mittelweg geht, der in den Rahmen der christlichen Soziallehre hineinpasst.

Dass Lehrlinge abgeschoben werden, bevor die Ausbildung abgeschlossen ist?
Bei dem Thema hat sich mit dem humanitären Bleiberecht eine kaum bemerkte Änderung der Politik ergeben. Wenn du fünf Jahre hier bist, integriert bist, kriegst du das Bleiberecht. Man wird nur abgeschoben, wenn man illegal hier ist….

Sie spielen auf das georgische Mädchen an?
Die Eltern sind sieben Mal illegal eingereist. Bei Moria stellt sich die Frage der Verantwortungsethik. Kann ich es verantworten, der reinen Gesinnung nachzugeben, die ich durchaus verstehe, wenn ich weiß, dass man so die Schleusen öffnet und sich große Belastungen des innenpolitischen Systems ergeben? 

Es geht um 50 Kinder?
Dann kommen die Eltern und andere Familienmitglieder. Wenn man 50 nimmt, warum nicht 500? Wir sind leider Gottes gebrannte Kinder. 

Sind Sie ein Schwarzer oder ein Türkiser? Oder ein Türkiser mit schwarzen Wurzeln?
Ich betrachte das weitgehendst als Altersfrage. Die Jungen sind alle türkis, die Älteren sind Schwarz geboren und die meisten sind  Schwarz geblieben. 

Wie sehr haben diese Chats wehgetan? Der Vollgas-Sager des Kanzlers?
Das ist der einzige, der mir wehgetan hat. Wenn ich mir anschaue, was sonst da alles an Dingen des privatesten Bereiches an die Öffentlichkeit rechtswidrig gezerrt wurde, waren die Äußerungen von Blümel und Kurz   harmlos.   Andere Chats, die auch bekannt geworden sind, sind da schon wesentlich schlimmer.

Entlarven die Chats nicht eine gewisse Skrupellosigkeit im Umgang mit dem Staat, etwa bei Personalbestellungen?
In der Zeit, in der ich als Klubobmann in der Bundesregierung war, waren politische Postenbesetzungen wesentlich häufiger. Da wurde ständig über Sektionschefs und Botschafter gestritten. Das ging bis zu den Schuldirektoren. Heute sind die Schuldirektoren weitgehendst „unpolitisiert“. Das hat Bundespräsident Fischer durchgesetzt. Es ist weniger geworden, es will nur niemand hören. 

Und der Umgangston?
Glauben Sie, dass die Politiker braver geworden sind? Mein Gott, wie oft bin ich dabei gewesen und habe auch selbst harte Urteile gefällt, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt waren! Da gibt es in der digitalisierten Welt einen gewaltigen Nachholbedarf. Man hat den Eindruck, dass es für den Nationalrat überhaupt keine Grenzen gelten. Wir sind im Persönlichkeitsschutz  – und dazu gehören politische Gespräche zwischen Privatpersonen – auf den Stand vor der Französischen Revolution zurückgefallen. Wir haben die Inquisition.

Hat sich die FPÖ mit Herbert Kickl ins politische Aus als möglicher Koalitionspartner manövriert?
Ich war ein leidenschaftlicher Vertreter der bürgerlichen Zusammenarbeit. Ich fand, dass Sebastian Kurz richtig gelegen ist, als er mit Strache die Koalition einging, aber ich bin inzwischen anderer Meinung. Die Kickl-FPÖ ist im Ton, in der Aggressivität, in der Europa-Feindlichkeit massiv eine andere als die von Norbert Hofer. Bevor diese ideologische Klärung auf einen vertretbaren Rechtskurs, rechts der Mitte, aber vertretbar, nicht undemokratisch, nicht rassistisch, nicht anti-semitisch, nicht anti-europäisch, nicht auf Verschwörungstheorien basierend, bevor das nicht geklärt ist, braucht man nicht mehr reden. Das dauert eine lange Zeit. Es ist nicht nur der Ton von Herbert Kickl. Hören Sie sich die Reden von Frau Berlakovich, Generalsekretär an!  Ich war früher ein leidenschaftlicher Befürworter und bin jetzt ein leidenschaftlicher Gegner.

Und sind jetzt ein leidenschaftlicher Befürworter von Türkis-Grün?
Leidenschaftlich nicht, sondern vernunftgeleitet. Ich sehe keine Alternative. Ich glaube, das Experiment ist sehr interessant und gut, aber schwierig.

Wie lange wird es halten?
Das hängt von den taktischen Überlegungen der beiden Parteien ab. Ich glaube nicht, dass diese Koalition vorzeitig enden wird. Wir sind mittendrinnen in der Gestaltung der Politik zur Erreichung der Klimaziele. Die Klimaziele sind von der ÖVP akzeptiert. Ob der Lobau-Tunnel gebaut wird oder nicht, ist eine politische Frage.

Das heißt, der Lobau-Tunnel soll nicht gebaut werden?
Die Regierung wird entscheiden müssen, wie sie die Klimaziele erreichen will, auf welche Maßnahmen sie setzen will, auf welche Projekte sie verzichten will. Ich habe für Gewesslers Evaluierung durchaus Verständnis, aber auch dafür, dass die Entscheidung politisch gefällt werden muss.

Aber wenn das Klima ein so wichtiges Thema ist, müssten Sie nach der nächsten Wahl für eine Fortsetzung der Koalition sein.
Wenn die ökologische Steuerreform gut gemacht wird und wenn man solche „Selbstfaller“ eliminiert,  dass z.B. eine Regierungspartei im Untersuchungsausschuss die Rolle der Oppositionspartei übernimmt. Das hält eine Koalition auf Dauer nicht aus. Sonst ist die Bilanz bis jetzt gut. Ich könnte mir auch vorstellen, dass man in etwas ruhigere Fahrwasser kommt und sich nicht mehr öffentlich Dinge ausrichtet wie das in der letzten Zeit der Fall war.

Sie haben einmal gesagt, die größte politische Niederlage war nicht die Bundespräsidentenwahl, sondern 1995, als sie nicht ÖVP-Obmann geworden sind.
Das stimmt. Ja, eine verhängnisvolle Rolle hat damals ein Interview gegeben, das ich der „Kleinen Zeitung“ gegeben habe. Da war ich noch nicht Obmann. Das war in der Woche vor Ostern, aber es da so ausgeschaut, als wenn das erledigt wäre. Da haben die Zeitungen schon entsprechend getitelt. Ich war da viel zu geschwätzig..

Soll die ÖVP auf einen Gegenkandidaten zu Van der Bellen verzichten?
Die Partei braucht meine Ratschläge nicht, aber die Partei kennt die Erfahrungen, die sie gemacht hat. Als Heinz Fischer zur Wiederwahl antrat, hat man keinen Gegenkandidaten aufgestellt. Die Erfahrungen waren gut.