Warum bleiben die Grünen trotz mancher Unbill in der Koalition? "Wir haben einen historischen Auftrag", sagt Klubobfrau Sigrid Maurer im Interview mit der Kleinen Zeitung. Ob das die ganze Partei auch so sieht, wird sich an diesem Wochenende zeigen.

Am Samstag, dem ersten Tag des Bundeskongresses, der als nicht-öffentliches Symposion abgehalten wird, wurde hinter verschlossenen Türen diskutiert. "Gemeinsam neue Wege gehen", ist das Motto, und wenn man den ersten Tweets aus Linz trauen darf, gab es für die Reden der Regierungsspitzen "viel Applaus".

Am Sonntag wird der Bundeskongress ab 10 Uhr live übertragen:

Man versammelt sich hinter dem Klimaschutz - der Hoffnung, innerhalb der Regierung etwas weiterbringen zu können, lässt Kritiker an einer weiteren Zusammenarbeit mit der ÖVP verstummen. "Es gibt Dinge, die größer sind als wir selbst" wird Werner Kogler, Chef der Grünen und Spitzenmann der Regierungsriege, mit seiner Rede am ersten Tag des Kongresses zitiert.

Und der neue Grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, der vom Bundeskongress noch in seinem Amt bestätigt werden muss, meint zu den Herausforderungen der Regierungsarbeit: "Wir habe harte Bretter zu bohren, aber wir haben auch spitze Schrauben."

Zum ersten Mal seit Corona und zum ersten Mal, seit die Grünen im Bund eine Koalition mit der ÖVP eingegangen sind, kommen heute und morgen rund 300 Delegierte aus ganz Österreich zusammen. Der Grüne Bundeskongress ist ein Barometer für die grüne Befindlichkeit. Die steirische Grünen-Chefin Sandra Krautwaschl fuhr „mit einem guten Gefühl“ nach Linz, die Grünen hätten in der extrem schwierigen Situation der Pandemie vieles erreicht. „Ich bin ganz klar dafür, dass wir hier weiterarbeiten, ich glaube die Menschen erwarten das auch von uns.“

Am ersten Tag des Bundeskongresses sei „der Stolz der Grünen auf ihre eigenen Leute in der Regierung“ zu spüren gewesen. Das Wissen darum, dass länger als eineinhalb Jahre regiert werden müsse, um etwas bewegen zu können, sei die einigende Kraft.

Inhaltlich stehen beim Bundeskongress in Linz vor allem Formalitäten an: Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein und Kultur-Staatssekretärin Andrea Mayer werden offiziell bestätigt, ein Leitantrag das Grüne Programm festschreiben, und eine Statutenänderungen soll den Wahlmodus für die Parteispitze verändern. Mindestens genauso wichtig wird aber das Atmosphärische sein: Der Grüne Bundeskongress wird ein Barometer für die grüne Befindlichkeit.

Die eineinhalb Jahre, die seit dem letzten Parteitag vergangen sind, waren für die Grünen ein wilder Ritt – nicht nur wegen der Pandemie. Die Regierungsbeteiligung brachte ihnen Aufmerksamkeit, Geld, Gestaltungsspielraum. Aber auch das, was manche in der Partei „Zerreißproben“ nennen. Da war der Antrag, Kinder aus den Flüchtlingslagern in Griechenland zu holen, bei dem die Grünen Parlamentsabgeordneten aus Koalitionsräson nicht mitstimmten. Da waren Korruptionsermittlungen gegen die ÖVP und Justiz-Kritik als Retoure, die die Grünen in Bedrängnis brachten. Da war der Misstrauensantrag gegen ÖVP-Finanzminister Blümel nach dessen Hausdurchsuchung, den die Grünen nicht unterstützten. Zähneknirschend, wie es heißt. „Es war im Klub nicht klar, dass wir das so hinnehmen“, sagt ein Mitglied des Parlamentsklubs: „Aber im Nachhinein hat es sich gelohnt, auf die Schmid-SMS zu warten.“

Was passiert ist - und was nicht

Das Nachhinein ist derzeit der Hoffnungsort der Grünen. Der Plan lautet: Später einmal werde hoffentlich erkannt werden, welchen Beitrag man geleistet habe – zu Klimaschutz, zu einem besseren Justizsystem, einer besseren Gesellschaft. Jetzt müsse man durchhalten und – ganz wichtig - pragmatisch bleiben. Mit wem man auch spricht, der Leistungskatalog der Grünen darf nie fehlen: Vom 1-2-3-Ticket (das es noch nicht gibt) bis zur Erhöhung der CO2-Abgabe Nova beim Fahrzeugkauf. Von der erhöhten Mindestpension bis zum aufgestockten Justizbudget. Vom Transparenzpaket bis zu Gesetzen gegen „Hass im Netz“.

Und wo es keine Erfolge gibt, wird hervorgestrichen, was nicht passiert ist, weil - so die  Selbstzuschreibung - die Grünen mitregieren: Dass es nach dem Terrorattentat in Wien kein neues Sicherheitspolizeigesetz gab, keine verstärkte Überwachung. Dass es im Asylsystem zu keinen Verschärfungen kam. Dass es keine Subventionen mehr gibt für alles, das mit Öl, Gas oder Kohle betrieben wird. „Ich sehe die Blockierer in der ÖVP“, sagt der grüne Klimaschutzsprecher Lukas Hammer: „Aber ich sehe auch diejenigen, die aus Klimaschutz- und Unternehmerperspektive wirklich froh sind, dass etwas weitergeht.“

Beim Thema Asyl und Zuwanderung hat man schon im Koalitionsabkommen festgeschrieben, erst gar keinen Konsens zu suchen: „Im Menschenrechtsbereich werden die beiden Welten sichtbar“, sagt die Menschenrechtssprecherin Ewa Ernst-Dziedzic: „Auch wenn wir uns nicht durchsetzen, dürfen wir hier nicht verstummen.“

Stützen oder kontrollieren?

Peter Kristöfel, der interimistische Wiener Parteichef, beobachtet noch etwas anderes: „Das Overton-Fenster verschiebt sich.“ Er meint damit: der öffentliche Diskurs habe sich seit der Grünen Regierungsbeteiligung verändert, in eine - für ihn – gute Richtung. In Wien haben die Grünen in der Koalition mit der SPÖ Erfahrung darin gesammelt, der kleinere Koalitionspartner zu sein. Und auch, was es heißt, wieder in die Oppositionsrolle zu schlittern. „Natürlich machen wir uns Gedanken, ob wir ein System stützen oder die kritisch, kontrollierende Macht in der Regierung sind“, sagt Kristöfel. Bis jetzt geht es sich für ihn aber noch aus.

Das sehen nicht alle so. Im Februar mahnte seine Landesgruppe in der „Wiener Erklärung“ von der Bundespartei ein: „Regieren ist kein Selbstzweck.“ Immer wieder treten Mitglieder öffentlichkeitswirksam aus der Partei aus. Etliche von Kristöfels Kolleginnen, darunter die Gemeinderätin Viktoria Spielmann, zeigen in Sozialen Medien „kein Verständnis für die Nicht-Zustimmung der Grünen“ bei der Verlängerung des Ibiza-U-Ausschusses.

Kommt ein Antrag aus Wien?

Delegierte aus Wien planten daher beim Bundeskongress auch einen Dringlichkeitsantrag einzureichen, dass die Grünen die Koalition beenden müssen, sollte ein angeklagtes Regierungsmitglied nicht zurücktreten. Dies wurde im Vorfeld des Bundeskongresses verhindert, hieß es gestern in informierten Kreisen, aber: „Wie wir uns verhalten, sollte Kurz tatsächlich angeklagt werden, wird bei uns überaus kontrovers diskutiert“, bestätigen mehrere Parlamentsabgeordnete. Aus strategischen Gründen wolle man sich aber keineswegs vorab festlegen.

Werner Kogler, der sich diesmal keiner Wahl stellen muss, hat intern viel Rückhalt. „Bei allen Detaildiskussionen ist viel Vertrauen zum grünen Regierungsteam da“, sagt der Abgeordnete Michel Reimon. Das betrifft auch Justizministerin Alma Zadić, die als Schutzherrin der unabhängigen Justiz positioniert wird, und Klimaschutzministerin Leonore Gewessler, die die Kimawende vorantreiben soll. Außerhalb der Grünen ist das aber noch nicht ganz so angekommen: In einer aktuellen Umfrage geben 27 Prozent der Befragten an, Gewessler, die von den Grünen als „Superministerin“ gehandelt wird, gar nicht zu kennen.

Das wollen die Grünen nun ändern, und auch sonst verstärkt ins Kennenlernen investieren. Denn durch die Pandemie sind sich auch ÖVP- und Grün-Mandatare, die miteinander Gesetze verhandeln, seit dem Start hauptsächlich über Videokonferenzen begegnet. Wenn man sich wieder persönlich austauscht, wird das wechselseitige Verständnis wachsen, hofft man. Und dann besser zusammenarbeiten. Die Hoffnung, sie bleibt also grün.

Kogler nicht amtsmüde

Nach dem Debakel der Grünen bei der Nationalratswahl 2017 war Kogler zunächst nur als Kurzzeitkrisenmanager eingesprungen. 2018 zum Bundessprecher gewählt, wollte er höchstens zwei Jahre lang im Amt bleiben. "Ich habe mich damals nicht unbedingt im Vordergrund gesehen auf Dauer", meinte er, "aber die Ereignisse waren dann völlig andere." Seither sei viel passiert, Wählerzuspruch bei den Europawahlen, dann bei der vorgezogenen Nationalratswahl, schließlich der Regierungseintritt: "Insofern hat sich das längst überholt."

Anfangs habe er höchstens für ein halbes Jahr vorausgeplant. "Aber wenn ich jetzt wenigstens in Jahresschritten denken kann, dann ist es zutreffend, dass ich nächstes Jahr wieder für den Bundessprecher kandidiere", erklärte Kogler. Die volle Funktionsperiode bis 2025 zu bleiben, "das ist dann das Ziel" - genauso wie als Vizekanzler in der türkis-grünen Koalition weiterzuarbeiten.