Diese Woche wurden in Österreich die Rollbalken wieder hochgezogen. Getestet, genesen oder geimpft – das ist Ticket in die neue Freiheit. In den vergangenen Wochen haben Sie mehrfach die Befürchtung geäußert, Vorrechte für Geimpfte führten zu einer Spaltung der Gesellschaft. Ist diese Gefahr mit der Verankerung der niederschwelligen Testmöglichkeit als Alternative zur Impfung abgewendet? 

ULRIKE GUÉROT: Fürs Erste ist dem damit Genüge getan. Aber ich hoffe eigentlich, dass das, was ich als „Überreglementierung der Vernunft“ bezeichnen würde, in dem Moment wieder aufgehoben wird, wo die Leute wieder sicherer werden. Ich bin für die Impfung, aber gegen den Impfpass. Es muss eine Lösung geben, sich frei zu testen, und selbst das Testen muss irgendwann mal aufhören.

Ist die GGG-Regel also im Einklang mit dem Europaratsbeschluss von März, wonach die, die sich nicht impfen lassen wollen, nicht diskriminiert werden dürfen? 

„Das Ziel aller Maßnahmen muss die Beendigung aller Maßnahmen sein.“ Das Zitat ist von Markus Gabriel, einem deutschen Philosophen. Wir wollen ja wieder in einen normalen demokratischen Zustand zurück.

Die zweite These: Die Geimpften sind geschützt, und die, die es nicht sind, tragen ihr Risiko. Die, die geimpft sind, können nicht das Recht auf „Privilegien“ nur für Geimpfte in Form eines Impfpasses ableiten, da Grundrechte für alle unveräußerlich sind und nicht am Gesundheitszustand festgemacht werden dürfen. Die GGG-Regeln dürfen auch nicht für die nächsten zehn Jahre gelten. Wenn wir große Teile der Bevölkerung geimpft haben, ist ja das Ziel erreicht, dass wir schwere Verläufe und damit die Überbelastung von Kliniken vermeiden.

Es ist insbesondere die Jugend, die noch keinen Zugang zur Impfung hat und deren Freiheiten gleichzeitig beschnitten werden. Müsste man von den Älteren den Verzicht auf Vorrechte, Reisefreiheit etwa, verlangen, bis allen die Impfung offensteht, als Akt der Solidarität nach der Zeit der Rücksicht, die die Jungen auf die Älteren genommen haben?

Ich sehe das noch einmal anders. In ganz Deutschland sind im vergangenen Jahr vier Kinder an Corona gestorben, weniger als im Straßenverkehr oder in Swimmingpools. Die Frage ist, ob Kinder es übertragen können und „nur“ deswegen geimpft werden sollten, um z.B. ihre Eltern nicht zu gefährden. Andererseits gibt es noch keine Langzeitstudien über die Impfstoffe, die wir verwenden, und die Frage ist berechtigt, ob es verhältnismäßig ist, dass wir unsere Kinder potenziell gefährden, um andere Bevölkerungsgruppen zu schützen: Primun non nocere, du sollst nicht schädigen, ist oberstes ärztliches Gebot.

Die Zeit der Corona-Pandemie war mit vielen Einschränkungen verbunden. Sie plädierten für den Vorrang der Würde des Menschen gegenüber dem Leben, also für das Recht der Oma, den Enkel zu sehen, auch wenn das ein Risiko bedeutet. Jeder soll sich nach seinem freien Willen für ein solches Risiko entscheiden können. Was ist mit jenen vulnerablen Personen, die der Impf-Verweigerer ohne deren Einverständnis einem Risiko aussetzt, weil er infiziert sein könnte?

Ja, natürlich kann man das nicht ausschließen, dass jemand, der nicht geimpft ist, auch jemand, der sich nicht impfen lässt, das Virus überträgt an jemanden, der sich nicht impfen lassen kann, aber…

Der Kern meiner Frage ist ja: Ist das dann nicht die Berufung auf eine Freiheit zu Lasten Dritter? 

Ja, aber das haben wir überall, auch im Straßenverkehr oder auf der Skipiste, dass Sie ein Restrisiko nicht ausschließen können, wenn Sie Risikogruppe sind. Die Frage ist ja, wie weit Sie das durchregulieren wollen und wie viel Kontrolle des Staates sie dann in letzter Konsequenz fast paratotalitär durchsetzen müssten. Wir haben bei Corona absoluten Risikoschutz betrieben, anstatt Risiko-Management.

Steht das Recht des Verweigerers über dem Recht des Gefährdeten, dem sein Zuhause ein Gefängnis zu werden droht, weil er sich nicht mehr raustraut auf die Straße?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Inzidenzen jetzt runter gehen, das passiert ja jetzt, und gleichzeitig immer mehr Menschen geimpft sind, dann reden wir von einem statistisch nicht mehr signifikanten Risiko, das nicht mehr als Grund dafür herhalten kann, dass man alles durchreguliert. Es gab auch früher Leute, die z.B. durch eine Grippe gefährdet waren, weil sie eine Chemotherapie hatten, das wurde nicht reguliert und kontrolliert. Der italienische Philosoph Agamben sagt: In dem Moment, wo Sie das geltende, aber bedeutungslose Recht durchsetzen müssen, ab da wird es totalitär. Das Durchsetzen von unplausiblen Regelungen um jeden Preis ist eine Gefahr für die Gesellschaft.

Sie berufen sich auf die freie Entscheidung, zu Hause zu bleiben und sagen, die Angst muss bei der eigenen Person bleiben. Darf eine soziale Gesellschaft auf die moralische Verpflichtung pfeifen, jene, die Angst haben, als Gemeinschaft zu schützen? Was macht es mit dieser Gesellschaft, wenn jeder nur auf seine eigene Freiheit pocht, auf die Befriedigung des eigenen Egos abstellt?

So kann man’s natürlich wenden. Man kann aber auch sagen: es geht darum, dass nicht jeder ein Recht darauf hat, die eigene Angst zu externalisieren, also, weil er selber Angst hat, von allen anderen zu verlangen, sich seiner Angst unterwerfen. Da könnten Sie ja auch sagen, das ist egoistisch. Wir haben auch andere gesellschaftliche Risikogruppen, die bisher jedenfalls keinen Schutzimperativ geltend gemacht haben.

Sie sagen, die Beschneidung von Rechten sei nicht vereinbar mit dem Konzept von Demokratie. Aber ist es nicht auch innerhalb einer Demokratie so, dass die Freiheit des einen dort endet, wo die Freiheit des anderen beschnitten wird?

Lange ging es um die Überbelastung der Krankenhaus-Systeme, um die Triage, etc., aber das Thema ist jetzt vom Tisch. Wenn große Bevölkerungsgruppen geimpft sind, dann kommen die schweren Verläufe kaum noch vor und das zentrale Argument für das bisherige Krisenmanagement fällt weg. Das heißt ja nicht, dass sich nicht auch dann noch einige Leute infizieren können oder unter einem schlechten Verlauf leiden, aber es sind dann sehr wenige, und es gibt auch zunehmend lindernde Medikamente. Da frage ich mich dann, warum wir bei Corona einen anderen gesellschaftlichen Imperativ haben wollen als bei vielen anderen Krankheiten und geschwächten Gruppen der Gesellschaft, wo wir diesen Imperativ nicht haben, bzw. wo wir den Schutz nicht über buchstäblich alles stellen.

Die Zeit, als die Intensivstationen überfüllt waren, ist bei uns noch nicht so lange her. Sie sind gegen eine Impfpflicht und plädieren für „dubio in reo“, im Zweifel für den „Angeklagten“: Nicht-Geimpften dürfe nicht pauschal unterstellt werden, dass sie infektiös sein könnten. Aber ist das nicht das falsche Bild? Darf der Gefährder darauf beharren, dass er gefährden darf? 

Nein, natürlich nicht, aber es geht ja auch nicht um leichtsinnige oder gar mutwillige Gefährdung. Ich versuche nur, strukturelle Analogien herzustellen für den Punkt, ab dem wir schwere Verläufe grundsätzlich im Griff haben. Ich vergleiche Corona nicht mit der Grippe, aber: Wir hatten auch schon viele Grippetote, und wir haben nie gesagt, dass man mit einer Grippe keine U-Bahn besteigen darf, eine Maske aufziehen und sich freitesten muss, bevor man z.B. ins Büro geht.

Wenn wir keine schweren Verläufe in großer Zahl mehr haben, durch die Impfungen und bessere Behandlungsmethoden, dann ist die Pandemie als Pandemie beendet. Dann sehe ich keinen Grund dafür, warum Corona weiterhin von Retracing, staatlicher Kontrolle und „GGG“-Regeln begleitet sein soll, die Infizierte inkriminieren und die Gesellschaft in gegenseitige Schuldzuweisungen treibt.

Schuld, sagen sie, sei der Zwilling der Angst, in Zusammenhang mit Panikmache, und diese habe die Zeit der Corona-Pandemie geprägt. Schuld und Angst seien nicht „demokratietauglich“ als Leitmotive. Ist Schuld nicht auch das zweite Gesicht von Verantwortung, und ist die nicht geradezu das Wesen einer funktionierenden, an solidarischen Werten ausgerichteten Demokratie?

Genau das ist ja die Dialektik: Sie können den moralischen Imperativ aufbauen und sagen: „Du bist verantwortlich und musst solidarisch sein“. Aber dann ist erstmal zu prüfen, ob das zahlenmäßig irgendwie gedeckt mit dem realen Infektionsgeschehen, und das sehe ich nicht mehr. Die Gesellschaft muss sich wieder auf ein normales Niveau von Eigenverantwortung einpendeln. Deswegen beobachten wir ja gerade, dass überall – in den USA, Niederlande, Frankreich – geöffnet wird, zum Teil sogar weitgehend ohne Restregeln wie „GGG“.

Es war in der Corona-Pandemie vielfach von der „neuen Normalität“ die Rede. Sehen Sie mittelfristig überhaupt noch die Möglichkeit einer Rückkehr zur alten Normalität, vor allem was unsere Freiheit im Tun und Handeln betrifft?

Wir sind alle jetzt atomisierte Bürger, wir haben jetzt alle fast Angst voreinander. Wir haben die Gesundheit zum größten Imperativ der Gesellschaft, zum Maß aller Dinge, gemacht, nicht etwa die Lust oder die Kunst oder das gesellige Beisammensein. Die Oper ist wieder offen, aber viele gehen trotzdem nicht hin, weil sie nicht mit Maske dasitzen wollen. Ich glaube also schon, dass das alles langfristige Effekte auf die Gesellschaft haben wird, darauf, wie wir miteinander umgehen. Es gibt jetzt eine Tendenz, Kranke auszugrenzen und „Gesundheit“ als gesellschaftliche Eintrittskarte zu handeln. Ganz zu schweigen von den Sozial- und Bildungsfaktoren und den psychosozialen Schädigungen wie etwa Depressionen. Da werden wir wohl noch jahrelang daran knabbern, diese Schäden aufzuholen. Das alles wird jetzt zunehmend in den Vordergrund rücken. Aber ich hoffe doch wirklich sehr, dass wir Corona nicht zum Anlass nehmen, fundamentale Prinzipien unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens und unsere Rechtsordnung auf Dauer zu ändern. 

Sind Sie selbst bereits geimpft? 

Nein, bin ich nicht, und ich bin ja auch noch nicht dran, wie man so schön sagt. Ich schließe aber nicht aus, dass ich mich impfen lasse. Irgendwann komme ich wohl auch einmal an die Grenze, wo ich sage: Ich will auch so einen Barcode haben, damit ich mich nicht immer testen lassen muss, z.B. vor Reisen oder jedem Besuch einer öffentlichen Einrichtung. Vielleicht wird mir ja auch die Donau-Uni Krems demnächst eine Impfung vorschreiben.  Aber es ist eine dynamische Entwicklung, vielleicht kommt vorher auch die sogenannte „Herden-Immunität“…

Wobei das Sich-Verlassen auf die Herdenimmunität letztlich dann ja doch wieder bedeuten würde, dass man die Verantwortung abschiebt und sich auf den Schutz durch die anderen verlässt, oder?

Ja, aber das tut man ja bei der Grippe auch…, nur: dass wir jetzt alle schon mürbe sind und raus wollen in den Biergarten ist ja nun noch kein plausibles Argument für eine Impfung! Wogegen ich mich wehre ist, dass wir seit einem Jahr eine permanente Verschiebung dessen haben, was wir eigentlich erreichen wollen. Am Anfang waren es die Vermeidung der Überbelastung der Spitäler, der Triage, und der Schutz der Risikogruppen und der Älteren. Das haben wir erreicht. Jetzt geht es schon um Durchimpfung, Kinderimpfungen, Impfpässe und dauerhafte Verhaltensregeln.  Das will ich zumindest diskutiert wissen.

Sie diagnostizieren eine große schweigende Mehrheit, zermürbt und verwirrt, zwischen jenen, die daran arbeiten, die Pandemie zu beenden, und der lautstarken Gruppe von Corona-Leugnern bzw. Maßnahmen-Gegnern. Wie könnte man die wieder vom Frachtraum des Mutterschiffes Demokratie ans Oberdeck bringen?

Geholfen wäre schon mit ein bisschen mehr Vernunft und Gelassenheit, mit einer Mäßigung in der Sprache, mehr Verhältnismäßigkeit und weniger schüren von Angst. Offensichtlich haben wir als Gesellschaft den Umgang mit einer gewissen Schicksalshaftigkeit verloren. Die Rückbesinnung darauf, dass die Demokratie keine Vollkaskoversicherung ist, wäre schon wünschenswert. Oder vielleicht auch die Rückbesinnung, dass der Tod immer noch ein Teil des Lebens ist und die Gesellschaft nicht bis ins letzte Eck Sicherheit davor bieten kann.

Damit rede ich nicht dem Leichtsinn das Wort, und ich will auch nicht als egoistische Freiheitskämpferin oder gar als „Zynikerin“ dastehen, wie es mir vorgeworfen wurde. Ich bin verantwortungsbewusst und sehr solidarisch, aber die Frage ist ja, ob wir wirklich solidarisch waren in der Krise. 

Wie meinen Sie das?

Wir haben das untere gesellschaftliche Fünftel sozial auf den Boden plumpsen lassen als gäbe es kein Morgen. Die, die es sich leisten konnten, saßen entspannt mit ihren Macbooks im Gartenstuhl und pachteten die Moral: „Ich bin ja so anständig und schütze mich und andere“, während die Kassiererinnen, Paketboten  und Krankenschwestern zur Arbeit mussten und andere – z.B. kleine Gewerbetreibende, Hoteliers oder Kleinkünstler - ihren Job verloren und wahrscheinlich auch nicht wiederfinden. Allen Statistiken zufolge haben die sogenannten „Superreichen“ in allen Ländern weltweit ihre Vermögen deutlich vermehren können. Eigentlich sollte man sicherstellen, dass diese Zuwächse in einen globalen Corona-Krisenfond zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen kommen. Aber über diese neoliberalisierende Krisendynamik kann man kaum reden, ohne dass einem Zynismus oder Neid vorgeworfen wird. Im Grunde ist aus dem Gesundheitsdarwinismus als Selektionsprinzip ein sozialer Darwinismus geworden: Davor, dass du krank wirst, schützen wir Dich. Aber wer sozial durch alle Raster fällt, ist heutzutage selber schuld. Gerade von den einfachen Menschen bekomme ich da übrigens die meisten Zuschriften, während bildungsaffine Freunde, Bekannte und Kollegen mich eher gemieden haben  in den letzten Wochen.