Im März letzten Jahres hat die Bundesregierung erstmals Ausgangsbeschränkungen verhängt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sollte niemand seine eigenen vier Wände verlassen. Eine zehn Jahre alte TV-Dokumentation, die am Wochenende auf ORF 3 lief, erinnert daran, dass vor 35 Jahren in Österreich ernsthaft Ausgangssperren erwogen worden sind, der damalige Gesundheitsminister legte sich quer – aus parteipolitischen Erwägungen.

Auslöser der damaligen Überlegungen war nicht ein Virus, sondern der Super-GAU im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl. Ein schiefgelaufenes Experiment führte in der Nacht auf den 26. April zur Explosion eines der Reaktoren. Tagelang wurde radioaktive Materie freigesetzt, die Machthaber im Kreml sahen zunächst keinen Grund, die Bevölkerung wie auch andere Länder über die Katastrophe zu informieren. Erst als die Geigerzähler im Westen, auch in Österreich, verrückt spielten, erfuhr die Weltöffentlichkeit von dem Vorfall. In der Doku enthüllt der damalige Kreml-Chef Michail Gorbatschow, dass er von seinen eigenen Leuten über das Ausmaß der Explosion im Unklaren gelassen wurde, erst Berichte über erhöhte Radioaktivität in Schweden öffneten auch ihm die Augen. Ohne Tschernobyl hätte Gorbatschow seine Politik der Öffnung und der Transparenz, die zur Erosion der kommunistischen, auf Geheimhaltung und Desinformation beruhenden Sowjet-Diktatur geführt hat, womöglich erst Jahre später eingeleitet.

"Wir haben es ordentlich abbekommen"

In den Tagen nach der Explosion wurden leicht erhöhte Werte in Gemüse, Milch und Sandkisten in Österreich gemessen. In der Nacht auf den 1. Mai änderte sich das. „Wir haben es ordentlich abbekommen“, erinnert sich Klimaforscher Helga Kromp-Kolb in der von Gerhard Jelinek im Jahr 2011 gestalteten Dokumentation, die vor dem Hintergrund von Corona in neuem Licht erscheint und verblüffende, bisweilen beängstigende Parallelen zur Gegenwart aufweist. Über weite Teile Österreichs gingen heftige Gewitter nieder, zwei Prozent des nuklearen Fallouts entluden sich auf unserem Bundesgebiet. Der in der Zwischenzeit verstorbene Gesundheitsminister Franz Kreuzer enthüllt in der Doku: „In der Nacht ist es um eine dramatische Entscheidung gegangen, um die Frage einer Ausgangssperre, einer Ausgangswarnung. Man muss sich das vorstellen, wenn am 1. Mai das ganze Land zu Hause bleiben muss.“ Warum er sich dagegen entschieden hat, begründete der einstige ORF-Chefredakteur damit: „Das hätte eine unglaubliche Panik erzeugt.“ 

Höhepunkt im sozialdemokratischen Jahreskreis

Dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist, wurde bereits damals heftig debattiert. Am 1. Mai feiert die SPÖ den Tag der Arbeit, im rot regierten Wien ist dieser Termin der Höhepunkt des sozialdemokratischen Jahreskreises. Eine Absage käme einem Verbot der Osterfeierlichkeiten gleich, was im Übrigen im Frühjahr 2020 wegen Corona der Fall war. In der Doku räumt der spätere Bundeskanzler Franz Vranitzky parteipolitische Überlegungen ein: „Wir haben uns entschlossen, den 1. Mai nicht abzusagen. Das stand auch im Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl.“ Wenige Tage später unterlag die SPÖ im Rennen um das höchste Amt im Staat, Kurt Waldheim besiegte den früheren SPÖ-Gesundheitsminister Kurt Steyrer.

„Das ist der übliche Leichtsinn“

Noch in anderen Punkten tun sich verblüffende Parallelen zur Gegenwart auf. Der ehemalige oberösterreichische Landeshauptmann Josef Ratzenböck erinnert in der Doku daran, dass das Gesundheitsministerium mit den Folgen von Tschernobyl heillos überfordert war, während die Regierung unentwegt beteuerte, man habe alles im Griff. „Das ist der übliche Leichtsinn, es wird schon nichts passieren“, kontert Freda Meissner-Blau, die Galionsfigur der grünen Bewegung. In einer Straßenbefragung wird darüber geklagt, dass man die Gefahr weder sehen noch riechen noch hören kann – eine Aussage von erstaunlicher Aktualität.

In den Wochen danach musste die Regierung zu drastischen Mitteln greifen. Milch wurde in die Donau geschüttet, frisch geernteter Salat und Spinat mussten vernichtet werden, Kindern wurde das Betreten von Spielplätzen untersagt, vom Verzehr von Schwammerln und Beeren wurde dringend abgeraten.

Kein Verzehr von Maronenröhrlingen

Die Folgen sind bis heute nicht beseitigtSo rät das Gesundheitsministerium in einer ganz aktuellen Aussendung vom Verzehr von Maronenröhrlingen ab. Eierschwammerl wie auch Wildfleisch aus höher belasteten Regionen, etwa aus dem westlichen Niederösterreich, der westlichen Obersteiermark, aus weiten Teilen von Oberösterreich und Salzburg sowie vom Koralpen-Gebiet, sollten nicht in großer Menge konsumiert werden.