Was ist Ihre Erwartung an das Gespräch? Dann würden wir unsere formulieren.
SEBASTIAN KURZ: Die Regeln sind einfach und seit Beginn der Demokratie unverändert. Die Journalisten entscheiden über die Fragen, und die Politiker haben das Recht, darauf zu antworten, auch, wenn dem Interviewer die Antwort manchmal nicht gefällt.

Unsere Erwartung wäre, dass wir ohne den politischen Formelvorrat auskommen und Sie mit Bildern konfrontieren, die sich in den vergangenen zehn Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung über Sie herausgebildet haben. Lassen Sie sich darauf ein?
Auf alles.

Da wäre das Bild vom „Wunderkind“. Es ist gleich am Anfang nach den Schmähungen gekommen, dass Sie ein „Schnösel“ aus einem besseren Bezirk von Wien sind. Dann war nur das Wunderkind. Sie haben mit 34 ein Leben, wo andere drei Leben brauchen, um dorthin zu kommen. Wie sehen Sie im Rückblick diese ersten Zuschreibungen?
Beide fand ich falsch. Manche haben geschrieben „mit dem goldenen Löffel aufgewachsen im Nobelbezirk aus schwer reichem Elternhaus“.

Sitzt das so tief?
Da wurden sogar in Qualitätsmedien Privatschulen genannt, die ich angeblich besucht habe. Die Wahrheit ist, ich komme aus komplett normalen Verhältnissen, bin in Meidling, einem Arbeiterbezirk in Wien, aufgewachsen, in einer 90-Quadratmeter-Wohnung mit meinen Eltern, lebe nach wie vor in diesem Bezirk und war immer in öffentlichen Schulen. Ich habe den Segen einer normalen Kindheit und Jugend gehabt, für die ich dankbar bin. Genauso falsch war auch der Versuch der Darstellung eines Wunderkindes. Auch das war ich nie. Ich war nie ein Wunderkind. Ich bin ein ganz normaler Mensch aus ganz normalen Verhältnissen. Das erdet mich und gibt mir Geborgenheit. Und am wichtigsten: Es hilft mir, dass ich einer bin, der andere Menschen mag.

Zum Bild des Wunderkindes kam jetzt das Gegenbild: die Entzauberung des Wunderkinds. In vielen europäischen Medien war das die Schlagzeile. Was ist in diesem Jahr aus der Balance geraten?
Ich habe gelernt, mich nicht von Berichterstattung abhängig zu machen und die Zuschreibungen nicht ernst zu nehmen, weder die Überhöhungen noch die Verdammung. Der erste große Fehler. Die erste große Krise. Ich habe solche Schlagzeilen schon Dutzende Male über mich gelesen, sodass ich manchmal den Eindruck habe, es dürfte manchen Kommentatoren die Mathematik fern sein. Ich kenne das Karussell, es dreht sich immer schneller. Einmal „Shootingstar“, dann „rücktrittsreif“, da können bei Ministern oft nur Monate dazwischenliegen. Ich muss schmunzeln über diese Spins.

Aber es geht da nicht um „Spins“. Es gab Vorfälle, die sich auf diese Art nicht erklären lassen. Die Kurznachrichten rund um den Job des Verstaatlichten-Managers: Das war schwerwiegend, weil es den Kern Ihres Selbstverständnisses getroffen hat. Das Bild ist: ein Bundeskanzler, der sich schwertut, einen Fehler einzubekennen. Woher kommt das?
Sie unterliegen einem falschen Eindruck. Ich bin in einer Funktion, wo man täglich Hunderte Entscheidungen zu treffen hat. Da sind viele richtig, aber auch unzählige falsch. In diesem Bewusstsein gehe ich jeden Tag schlafen, und mit diesem Bewusstsein mache ich mich tagtäglich wieder an die Arbeit. Was für die Menschen zählt, sind die Resultate, das Gesamtbild. Insofern ist es für mich ganz einfach zu beantworten. Schlimm ist es, wenn man in einer Spitzenposition ist und aus Angst, Fehler zu machen, keine Entscheidungen trifft. Fehler gehören dazu.

Aber es gehört offenbar nicht dazu, über sie auch öffentlich zu sprechen. Auf Ihrer Homepage ist zu lesen „Sebastian Kurz steht für Anstand und Vernunft“. Was rund um den Postenschacher sichtbar geworden ist, lässt sich weder mit dem einen noch mit dem anderen in Einklang bringen. Warum kein Wort der Entschuldigung?
Wenn ich jemanden beleidigt habe, und das ist mir in den zehn Jahren immer wieder passiert, habe ich mich noch jedes Mal dafür entschuldigt. Wenn ich mich in einer Einschätzung geirrt habe, war ich froh darüber, wenn ich dazugelernt habe. Aber wo ich nicht mitmache, ist, dass jede Besetzung von links als Segen dargestellt wird und jede von einer bürgerlichen Partei als Verbrechen. Das ist mir im Diskurs zu plump.

Ändert das was an den Zitaten selbst? Sie bleiben ungeheuerlich.
Welches Zitat von mir?

Es geht um das Bild, das entstanden ist, um das Sittenbild.
Welches Bild?

Um das Bild einer eingeschworenen Clique, die sich untereinander die Pfründe zuschanzt, respektloser als die Altvorderen, von denen man sich abgegrenzt hat.
Vieles ist aus der Zeit und aus dem Zusammenhang gerissen. Entscheidend ist die Qualifikation. Ich halte nichts davon, dass jede Personalentscheidung skandalisiert wird, nur weil es Bürgerliche sind. Nach zehn Jahren Regierungserfahrung habe ich unzählige Besetzungen von Rot, Türkis und Blau miterlebt, zuletzt über hundert davon mit den Grünen, wo immer Personen ausgewählt worden sind, die qualifiziert sind, aber auch, die in vielen Fällen einen Background in der grünen Partei haben, ganz gleich, ob das das Naturhistorische Museum, die Austro Control oder zuletzt die Abteilungsleitung im Sportministerium betrifft. Ich würde mir eine objektivere Form der Debattenführung wünschen. Alle strafrechtlichen Vorwürfe und Unterstellungen haben sich als falsch herausgestellt.

Aber es geht nicht um die strafrechtliche Relevanz, sondern um den Anstand, den Sie als etwas Neues in die Politik bringen wollten.
Ich habe versprochen, dass ich mein Bestes geben werde, um gute Arbeit für das Land zu leisten, um arbeitende Menschen zu entlasten, notwendige Reformen durchzuführen und eine konsequente Linie im Kampf gegen illegale Migration zu führen. Genau das tue ich.

Das Kaufhaus Österreich, die stockende Impf-Kampagne, die Plagiatsaffäre der Arbeitsministerin, der Konflikt mit der Anklagebehörde: Sie machen in diesem Jahr zum ersten Mal die Erfahrung des Misserfolgs. Wie erleben Sie das?
Gott sei Dank war der politische Einstieg so hart, dass mich kaum noch etwas verschrecken kann. Ich habe immer wieder Rückschläge einstecken müssen. Wir haben mit Begeisterung in der türkis-blauen Regierung gearbeitet, um notwendige Reformen durchzuführen. Mit dem Ibiza-Video war diese Zusammenarbeit schlagartig zerstört. Ich wurde als erster Kanzler im Parlament abgewählt.

War das der schlimmste Moment?
Am schlimmsten war der Einstieg in die Spitzenpolitik, die persönliche Herabwürdigung in vielen Medien.

Wegen des Alters?
Wegen des Alters, des Aussehens, meiner politischen Überzeugungen, was auch immer. Das war für mich und meine Familie belastend. Mittlerweile bin ich froh, das erlebt zu haben, weil ich dadurch ein dickes Fell entwickelt habe. Wenn ich heute auf zehn Jahre zurückblicke, dann bin ich dankbar für all die Unterstützung, die ich in der Bevölkerung erleben darf. Sie haben das vielleicht vergessen, aber ich bin in einer Zeit politisch sozialisiert worden, da ist die ÖVP um die 20 Prozent gelegen. Jede Wahl, die nach Wolfgang Schüssel geschlagen wurde, ist verloren gegangen. Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass die ÖVP in Meinungsumfragen bei über 30 Prozent liegen kann und eine Regierung anführen darf, hätte ich gesagt, da hat jemand keinen Bezug zur Realität.

Sebastian Kurz und Rudolf Anschober
Sebastian Kurz und Rudolf Anschober © APA/Herbert Neubauer

Hat es Sie getroffen, dass Sie Rudolf Anschober bei seinem Abgang in der Danksagung mit keinem Wort erwähnt hat?
Ich habe mit ihm telefoniert und mich bei ihm persönlich für seine Arbeit bedankt und habe das auch öffentlich gemacht. Jeder verdient Respekt, der eine herausfordernde Tätigkeit in der Regierung übernimmt. Dass wir immer wieder unterschiedliche Auffassungen hatten, ist normal. Wir sind alle keine Maschinen, sondern Menschen mit unterschiedlichen Prägungen und Zugängen. Was ich an der Zusammenarbeit schätze, ist, dass wir in der Regierung zwar oft nächtelang diskutieren, stundenlang verhandeln, mit Ländern und Sozialpartnern intensive Sitzungsmarathons führen mussten, uns aber am Ende immer einigen konnten und das auch gemeinsam nach außen vertreten haben.

Aber zu einem persönlichen Abschiedsgespräch ist es nicht gekommen?
Ich habe ihn eingeladen, sobald es ihm gesundheitlich besser geht. Dann wollen wir uns als Bundesregierung gemeinsam verabschieden.

Wie lange wird das türkis-grüne Bündnis halten?
Jedenfalls bis zu den nächsten Wahlen. Das persönliche Verhältnis mit Werner Kogler ist sehr gut. Ohne ihn wäre es nicht zum Bündnis gekommen. Es hätte ohne ihn niemals eine Möglichkeit für diese Koalition gegeben. 2003 wäre so eine Zusammenarbeit nicht möglich gewesen, durch ihn ist es möglich geworden. Wir haben gemeinsam noch viel vor. Bis jetzt war die Regierung vom Kampf gegen die Pandemie geprägt, aber durch den Impf-Turbo und den schnellen Impf-Fortschritt in den nächsten Wochen gehe ich davon aus, dass wir bis zum Sommer zur Normalität zurückkehren können, und dann ist unser großes Ziel der wirtschaftliche Wiederaufbau, die notwendige digitale und auch ökologische Transformation, aber vor allem die Fortsetzung der steuerlichen Entlastung für kleine und mittlere Einkommen und insbesondere für Familien, die wir uns vorgenommen haben. Daran arbeiten wir jetzt schon auf Hochtouren.

Von drei Regierungsbündnissen haben Sie zwei von innen heraus aufgebrochen. Ein weiteres Außenbild knüpft daran an: der begabte Solist, der nicht bündnisfähig ist und dem anderen keinen Raum und Erfolg gönnt. Erkennen Sie sich wieder?
Über Ihre Bilder ließe sich eine Schlagzeile spannen. Es gibt eine Regel und die lautet: „Sebastian Kurz ist schuld“. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre zurückblicke, kann ich nur sagen, es gab da wahrscheinlich an die hundert Regierungsmitglieder. Mit vielen hatte ich kaum einen Berührungspunkt, schon gar keinen Konflikt. Die durchschnittliche Tätigkeit eines Ministers in Österreich beträgt maximal ein paar Jahre. Daher bitte ich um Verständnis, dass ich das nicht alles in Zusammenhang mit mir sehen möchte.

Ein Verwunderter, Reinhold Mitterlehner, hat erst diese Woche im Fernsehen geklagt, dass Sie jemand seien, der dem Erfolg alles unterordne und in der Verwirklichung seiner Ziele rücksichtslos sei.
Dass wir stets unterschiedliche Zugänge hatten, ist bekannt. Dass in einer Demokratie der Wähler entscheidet und politischer Erfolg die Basis dafür ist, die eigenen Überzeugungen umsetzen zu können, ist nichts Verwerfliches, sondern das Wesen der Demokratie.

Sie sind im Umgang ein höflicher und konzilianter Mensch. Auch das ist ein Bild. Wie erklären Sie es sich, dass Sie trotzdem so sehr polarisieren?
Je klarer die Haltung in verschiedenen Fragen ist, ganz gleich, ob das Standortpolitik oder Migrationspolitik ist, desto mehr Widerstand erntet man auch. Darüber hinaus erleben wir seit dem Wahlkampf 2017, dass andere politische Kräfte sehr viel Zeit investieren und auch Geld in die Hand nehmen, um mein Team und mich vor allem in sozialen Medien schlechtzumachen und anzupatzen. Das ist etwas, was nicht nur ich erlebe, sondern so geht es sehr vielen Regierungschefs.

Sind Sie nach zehn Jahren auf etwas besonders stolz?
Wichtig ist, dass wir den Weg der Entlastung fortsetzen, mit dem Familienbonus, aber auch mit der Senkung der Lohn- und Einkommenssteuer für kleine und mittlere Einkommen, damit arbeitenden Menschen mehr zum Leben bleibt. Ich werde weiter, auch wenn ich dafür kritisiert werde, eine klare Haltung in der Migrationsfrage vertreten, weil ich einfach der Überzeugung bin, dass die unbeschränkte Aufnahme von Menschen in Europa nicht funktionieren kann. Der Erfolg der Integration hängt auch immer von der Zahl der zu Integrierenden ab. Dann hat die Pandemie wie kaum etwas zuvor gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir als Österreich und als Europa noch erfolgreicher in der Digitalisierung werden müssen, denn es wird in diesem Bereich immer mehr Wertschöpfung stattfinden. Von den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind neun Tech-Unternehmen, und alle haben gemeinsam, dass sie nicht hier in Europa angesiedelt sind. Da findet gerade mit einer unglaublichen Geschwindigkeit eine Transformation statt, wo wir alles tun müssen, damit wir das nicht verpassen.

Das letzte Bild: der noch immer junge Slim-fit-Kanzler, von dem man nicht genau weiß, wer er ist. Eine Sphinx ohne Rätsel. Sind Sie in diesen zehn Jahren ein anderer geworden? Welche Veränderungen nehmen Sie an sich wahr?
Das Wichtigste für mich ist, dass mein privates Umfeld und mein Freundeskreis gleich sind wie vor zehn Jahren. Ich habe neben den vielen Schattenseiten der Politik vor allem auch viel lernen dürfen, sowohl bei den Eindrücken im Ausland als auch bei den vielen Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen in unserem Land. Und gerade aus schweren Zeiten, Rückschlägen und Fehlern habe ich am meisten mitgenommen und gelernt.

Wie geht es Ihnen jetzt ohne direkte Begegnungen mit Menschen?
Zu Ostern war ich mit meiner Freundin seit Langem wieder beim Merkur einkaufen. Da kommen Menschen auf einen zu mit Sorgen, andere mit Fragen und viele werfen einem im Vorbeigehen nur Worte zu wie „Nicht unterkriegen“ oder „Nix g’fallen lassen“. Das gibt dann wieder Kraft.