Es ist eine der Lieblingsanekdoten, die Sebastian Kurz in kleiner Runde gern erzählt: Als er gefragt wurde, ob er Staatssekretär werden wollte, holte er die Meinung von Vertrauten ein. Er rief auch Josef Pröll an, der kurz zuvor als ÖVP-Chef abgetreten war. Mach es, meinte der und gab ihm ein paar Tipps. Erst dann fragte er nach dem Ressort. Als Kurz ihm sagte, dass er für Integration zuständig sein sollte, änderte Pröll seine Meinung: „Na, dann nicht“, sagte er trocken. Einen Tag später, am 19. April 2011, präsentierte Michael Spindelegger den 24-jährigen Obmann der jungen Volkspartei als neues Regierungsmitglied.

Exaktzehn Jahre ist es her, dass Sebastian Kurz in die österreichische Spitzenpolitikaufstieg. Nach anfänglicher Ablehnung - auch davon erzählt er gerne - ging es für ihn steil nach oben. Bald war er der beliebteste Politiker nach dem Bundespräsidenten. Bei der Nationalratswahl 2013 bekam er mehr Vorzugsstimmen als all seine Parteikollegen. Er wurde Außenminister und damit einer der mächtigsten Männer in der Regierung.

Als Schwerpunktthema ersetzte er schnell dieIntegration durch die Migration - bald nicht nur in seinem Ressort, sondern in der ganzen Partei. Als 2015 besonders viele Flüchtlinge nach Europa kamen, machte gekonntes Eigenmarketing („Ich habe die Balkanroute geschlossen“) ihn zum Vorzeige-Konservativen des Kontinentes. Und seine Beliebtheitswerte daheim waren anhaltend hoch.

Kurz wusste das zu nützen: Er ließ sich zum ÖVP-Chef küren und mit weitreichenden Machtbefugnissen ausstatten. Er überpinselte das industrieerdige Schwarz mit einem frischen Türkis und beendete die von ihm ungeliebte rot-schwarze Koalition. Im darauffolgenden Wahlkampf schmiegte er sich an Milieus an, die schon lange nicht mehr ÖVP wählten. In den Nachbarländern schaute man neidvoll auf ihn: Wie schaffte er es, Konservativsein so modern wirken zu lassen? Er beschwor, alles anders zu machen. Sebastian Kurz verhieß auf der Seite der kommenden Dinge zu stehen.

Was dann kam, machte allerdings doch viele stutzig: Kurz machte sich selbst zum jüngsten Regierungschef Europas - und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zum Vizekanzler. Am vorläufigen Höhepunkt seiner Macht erlitt sein Image damit seinen ersten Dämpfer: Eine Koalition mit einer Partei, die sich immer wieder in Antisemitismus, Verschwörungstheorien und Widersprüchlichkeiten verhedderte, ging so manch eingefleischtem Schwarzen zu weit. Den politischen Farbwechsel hatten sie gerade noch verkraftet, den Pakt mit der Strache-FPÖ aber nicht mehr. Auch international begann sich der Wind zu drehen. Das Magazin „Newsweek“ hob Kurz aufs Cover und titelte: „Österreichs junger Bundeskanzler bringt die Rechtsextremen in den Mainstream.“

Nicht einmal eineinhalb Jahre hielt die Koalition mit der FPÖ. Die Veröffentlichung des Ibiza-Videos im Mai 2017 nahm Kurz zum Anlass, ihr ein jähes Ende zu bereiten. Zunächst gelang es ihm, nicht nur unbeschadet, sondern sogar gestärkt aus der Sache herauszukommen. Bei den darauffolgenden Neuwahlen legte die ÖVP sogar noch zu. Mit 37,5 Prozent erreichte Kurz mehr als SPÖ und FPÖ gemeinsam. Sein Bessermachen-Versprechen, es hatte sich noch nicht abgenützt.

Mit der Koalition mit den Grünen gelang ihm ein doppelter Streich: Gerne betonte Kurz selbst deren „moralisches Potenzial“. Er konnte sich grünwaschen von seiner Liaison mit jenen, die - für alle sichtbar - wodkaschwanger auf Ibiza die Republik verscherbeln wollten. Und wieder schien er das Versprechen einzulösen, für etwas Neues zu stehen. Wieder schaute Europa auf Österreich: Wie machen das zwei derart ungleiche Parteien?

Das größte Dilemma versuchte man durch einen Trick zu lösen: Die Migrationspolitik - der prallste Zankapfel zwischen Türkis und Grün - wurde zum koalitionsfreien Raum erklärt. „Unterstützung bekam er dafür von der neuen Volkspartei aus ganz Österreich“, ist in der Festschrift zu 75 Jahre ÖVP zu lesen, die pandemiebedingt mit einem Jahr Verspätung an diesem Wochenende veröffentlicht wird: „Denn die neue Volkspartei stand nicht mehr für Eitelkeiten oder Dinge, die immer schon so waren.“

Mit etwas Verzögerung fällt die Koalition mit der FPÖ aber doch zurück auf Sebastian Kurz - wenn auch über Umwege. Denn ausgerechnet jener Untersuchungsausschuss, der wegen des Ibiza-Videos ins Leben gerufen wurde, bringt allerlei Unangenehmes für ihn ans Licht: Nicht nur gegen FPÖler, auch gegen einige von Kurz‘ engsten Vertrauten wird wegen Bestechlichkeit ermittelt.

Es wird hinterfragt, wie ein eingeschworener Kreis um ihn, „die Familie“, die Machtübernahme an neuralgischen Punkten der Republik und in Partei vollzog - und woher das Geld dafür kam. Veröffentlichte Chats geben einen intimen und wenig schmeichelhaften Einblick ins türkise Hinterzimmer der Macht. Und das scheint gar nicht so viel anders eingerichtet zu sein als andere. Vom „neuen Stil“ bleibt wenig über.

Auch in der Zusammenarbeit mit den Grünen knirscht es im Gebälk. Sechzehn Monate, nachdem die Parteien aus zwei Welten ihr Regierungsübereinkommen unterschrieben haben, ist offensichtlich: Den koalitionsfreien Raum, den gibt es nicht wirklich.

Mit Kritik umzugehen musste Kurz, der als politisches Wunderkind gefeiert wurde, früh lernen. Lange richtete sie sich vor allem gegen seine Migrationspolitik. Das ließ sich recht leicht wegwischen: Auch wenn sein Weg einigen (auch Christlich-Sozialen) nicht gefiel - er war erfolgreich. Nach zehn Jahren ist das „Wunderkind“ erwachsen geworden - und die Kritik fundamentaler: Jetzt richtet sie sich gegen seinen Umgang mit staatlichen Institutionen, mit vermeintlich Verbündeten wie der katholischen Kirche, mit der Europäischen Gemeinschaft.

Das schlägt sich auch in den Umfragen nieder. Beim Vertrauensindex hat Sebastian Kurz den schwächsten Wert seit 2013. Bei der Sonntagsfrage rangiert die ÖVP mit 33 Prozent so niedrig wie schon lange nicht mehr. Das ist viel schwächer, als es Kurz, der Erfolgsverwöhnte, gewohnt ist. Aber es ist - allen Schrammen zum Trotz - immer noch der klare erste Platz.