Sozialministerium am Wiener Stubenring, Dienstag, 9.30 Uhr: Als sich im 1. Stock die schwere Holztür zum Gobelinsaal öffnet, wissen die zwei Dutzend Zuhörer im Raum schon, was jetzt folgt. Rudolf Anschober, Gesundheitsminister und Zentralfigur der Coronakrise, will eine „persönliche Erklärung“ abgeben. Nicht nur Insidern ist klar: Das bedeutet Rücktritt. Es ist vorbei.

Der 60 Jahre alte Oberösterreicher wirkt aufgewühlt, hat am Beginn seines Showdowns sichtlich Mühe, in die Spur zu kommen. Sperrig umreißt er zunächst die Fülle seiner Aufgaben: Österreich habe eines der größten Gesundheitsministerien Europas, es gehe dort auch um Soziales, Konsumentenschutz, die Pflegereform, die Ernährungssicherheit, den Tierschutz. Minutenlang umschleicht der Minister den heißen Brei, spricht sogar über Pläne zur Lebensmittelkennzeichnung und zum Ausbau der psychischen Versorgung.

Belastung und "Überlastung"

Man ahnt, wie schwer ihm dieser letzte Aufzug fällt. Dann endlich das Thema Pandemie: „Corona hat auch mein Leben verändert.“ Das Virus habe ein „unvorstellbares“ Maß an Herausforderung, Verantwortung sowie „Belastung, ja: Überlastung“ gebracht. Niemand sei vorbereitet gewesen. Doch gleichzeitig zieht Anschober mit harmlosem Blick einen ersten Giftpfeil aus dem Köcher: „Eine Vorvorregierung“ habe mit „parteipolitischen Maßnahmen“ die Fähigkeit zur Krisenabwehr geschwächt. Gemeint ist wohl die von FPÖ-Vorgängerin Beate Hartinger-Klein bewirkte Zerschlagung der Gesundheitssektion samt Streichung des Generaldirektors für die öffentliche Gesundheit. Anschober setzte den Posten erst im Vorjahr wieder ein.

Nadelstiche gegen die ÖVP

Der Politiker hat sich jetzt warmgeredet. Stolz spricht er von 106 Verordnungen und vielen Erlässen, die er im Kampf gegen die Pandemie erwirkt habe. Dann neuerlich Nadelstiche, diesmal gegen die ÖVP: Auf der Suche nach Konsens seien „ein Schuss Populismus“ und „Parteitaktik“ spürbar gewesen. Speziell in der dritten Welle der Pandemie hätten die Interessenkonflikte stark zugenommen: „Ich habe mich da oft sehr alleine gefühlt.“ Mehr wolle er nicht verraten.

Nicht nur ein gesundheitlich angeschlagener Mann steht da am Acrylpult, sondern auch einer, der die wachsenden Spannungen in der Koalition nicht mehr länger hinunterschlucken kann. Die Gesten sind zwischendurch fahrig, aber die Wortwahl ist kalkuliert. Am Ende wird der Grüne in seinem fast halbstündigen Statement das Kunststück schaffen, weder Kanzler Sebastian Kurz noch die türkise Regierungsmannschaft mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Dafür lobt er überschwänglich Wiens SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig: Der sei „ein sensationeller Unterstützer“ gewesen, zuletzt durch die Verlängerung des Lockdowns bis in den Mai.

Eigenlob für Impfpraxis

Dass Anschober sich medial für unter Wert geschlagen hält, sagt er nur indirekt: Das Impfen und Testen etwa werde „ganz unterschätzt“, in der Praxis laufe das „viel besser und viel stärker als in der öffentlichen Wahrnehmung kommuniziert“. Ein Fünftel der impfbaren Bevölkerung („ein hässliches Wort, aber es ist der Fachbegriff“) sei schon geimpft.

Dann wird’s persönlich und sehr emotional: „Ich habe in diesen 14 Monaten versucht, wirklich alles zu geben. Ich habe mit aller Kraft an der Begrenzung der Pandemie mitgearbeitet.“ In dieser Zeit habe es für ihn keinen einzigen freien, wirklich entspannten Tag gegeben. Nun müsse er sehen, dass die Kraft fehle. „Ich bin überarbeitet und ausgepowert - das ist es.“

Blutdruck und Zuckerwerte

Offen wie zuvor noch kein amtierender Politiker spricht der Abtretende über seine Kreislaufprobleme, steigenden Blutdruck, steigende Zuckerwerte und beginnenden Tinnitus. Er erinnert auch an sein Burn-out als Landesrat vor neun Jahren. Denn: „Für Erkrankungen braucht sich niemand zu schämen.“ Er spreche das alles an, um zu enttabuisieren. Nicht unerwähnt bleibt, dass er Morddrohungen aus dem Lager von Coronaleugnern erhalten hat: Auch das entziehe einem die Kraft.

Die Ärzte hätten ihm zu einer Auszeit geraten. „Grundsätzlich müsste das auch als Minister möglich sein.“ Aber die Pandemie mache keine Pause, und deshalb könne auch der Gesundheitsminister keine Auszeit nehmen. „Und ganz klar formuliert: Ich will mich nicht kaputtmachen.“ Deshalb habe er - in Absprache mit seinen Ärzten - entschieden, die Funktion niederzulegen.

Einen politischen Roman schreiben

23 Minuten hat Anschober gebraucht, bis er diesen Satz endlich über die Lippen bringt. Dann erwähnt er noch, dass er keine Pläne habe, aber „irgendwann“ einen politischen Roman schreiben werde: „Vielleicht gibt es in den Erfahrungen und Erlebnissen der letzten Wochen und Monate die eine oder andere Inspirationsquelle.“

Am Ende schießen ihm Tränen in die Augen, die Stimme bricht, es entstehen lange Redepausen. Dank an „meine wirklich großartige“ Partnerin. Dank an die Kabinettschefin, an den grünen Parlamentsklub, an den Freund und Vizekanzler Werner Kogler, an die „wirklich wunderbare“ grüne Regierungsfraktion. Sogar für „tausende Menschen“, die ihn „auf unterstützende, liebevolle Art begleitet“ hätten, findet Anschober warme Worte. War sonst noch was? Gab es sonst noch jemanden, dem man danken könnte? Offenbar nicht. Leichte Verbeugung, Maske auf und Abgang: „Auf Wiedersehen!“