Ist es Sorglosigkeit? Verantwortungslosigkeit? Oder simpler Populismus gepaart mit Mutlosigkeit?

Am Montag trommelte Bundeskanzler Sebastian Kurz seinen Vizekanzler, den Gesundheitsminister und die neun Landeshauptleute im Kanzleramt zusammen. Fünf Stunden wurde konferiert, der Versuch von Gesundheitsminister Rudolf Anschober, die mächtigen Landeschefs der Ostregionen auf zusätzliche Maßnahmen einzuschwören, scheiterte kläglich. Um 18 Uhr schritt man vor die Medien. „Es wird nichts gelockert, aber es wird auch nichts verschärft“, fasste der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer die Gespräche zusammen. Also weiter wie bisher. Augen zu und durch?

Rote Linien aufgegeben

Am nächsten Tag lud Anschober die drei Landeshauptleute der Ostregion zu sich ins Gesundheitsministerium. Im Vorfeld des Treffens hatte das Triumvirat roten Linien gezogen. Niederösterreich Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner erteilte der Schließung des Handels oder auch Zutrittstests eine Absage, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig legte sich gegen Schulschließungen quer, Burgenlands Hans-Peter Doskozil träumte von der Öffnung der Thermen. Bis tief in die Nacht wurde verhandelt, am nächsten Tag wurden der Kompromiss in Abwesenheit des Kanzlers vorgelegt: Die drei womöglich mächtigsten Landeshauptleute vollzogen eine beispiellose Kehrtwende und räumten ihre Positionen. Anschober wollte der Ostregion sogar einen zwei bis dreiwöchigen Lockdown verordnen, daraus wurde eine sechstätige Osterruhe.

Vom Scharfmacher zum Softie

Warum es nicht schon am Montag gelungen ist, das Steuer in der Ostregion herumzureißen, ist unerklärlich. Der Kanzler hätte die für 18 Uhr anberaumte Pressekonferenz verschieben und nach EU- oder Merkel-Vorbild bis in die Nacht hineinverhandeln müssen. Das Hauptproblem ist allerdings, dass sich Kurz und Anschober politisch auseinandergelebt und in dieser Frage nicht am selben Strang ziehen. Der Kanzler sprach sich für  Schulschließungen, aber gegen Geschäftsschließungen aus, Wirtschaftsbund und Wirtschaftskammer sitzen dem Kanzler, der in Sachen Corona vom Scharfmacher zum Softie  mutiert ist, seit Jahresbeginn im Nacken. Beim Ostgipfel war der Kanzler durch seinen Kabinettschefs Bernhard Bonelli vertreten. Dem Vernehmen waren es die drastischen Ausführungen des Chefs der Gesundheit Österreich, Herwig Ostermann, über die Entwicklung in den Intensivstationen, die die Landeshauptleute, insbesondere Doskozil, zur Schwenk bewogen haben. Ludwig soll sich in den Stunden zuvor bereits mit Experten und Spitalschefs beraten haben. Der Föderalismus war nicht die Ursache allen Übels.

Erste Warnung am 25. Februar

Dass die Lage ernst ist, wussten alle Landeshauptleute seit gut vier Wochen – es sei denn, sie waren nicht im Bild, was ihre höchsten Gesundheitsbeamten bereits wussten. Am 25. Februar traf die Corona-Kommission zu ihrer wöchentlichen Sitzung zusammen. Gestützt auf Datenmaterial, Prognosen, Cluster-Analysen, Erhebungen in Spitälern werden bei solchen, meist drei bis vierstündigen Beratungen der Status quo im Detail besprochen und Risikoeinschätzungen vorgenommen. Vor mehr als einem Monat schlug die Kommission, der auch Vertreter des Bundeskanzleramts, den Innenministeriums wie auch des Bildungsministeriums angehören, erstmals Alarm.  „Die Anstiege in den Intensivstationen erfolgen erfahrungsgemäß zeitversetzt zum Auftreten steigender Inzidenzen“, ist in den 45-seitigen Empfehlungen der Corona-Kommission, der Vertreter aller neun Bundesländer als stimmberechtigte Mitglieder angehören und der der Kleinen Zeitung vorliegt, nachzulesen. „Aus diesem Grund empfiehlt die Corona-Kommission Maßnahmen in den Spitälern zu setzen, um auf die bevorstehenden Anstiege in den Intensivstationen vorbereitet zu sein.“ Und: „Ein neuerlicher dynamischer Anstieg der inzidenten Fälle kann die Lage in den Intensivstationen zum Zusammenbruch bringen.“ In den darauffolgenden Wochen wurden die Warnungen präzisiert, mit Zahlen unterlegt, konkretisiert.

Entspannung in Spitälern frühestens in "zwei bis vier Wochen"

Vor diesem Hintergrund erscheint es rätselhaft, warum beim Corona-Gipfel am Montag in Kanzleramt keine weiterführenden Maßnahmen beschlossen wurden. In ihren jüngsten Empfehlungen vom letzten Donnerstag prognostiziert die Corona-Kommissioneinen Zustrom zu den Intensivstationen „in den nächsten zwei bis vier Wochen“. Vor dem Hintergrund der anstehenden feiertagsbedingten Kontakthäufungen“ wird ein Lockdown für ganz Österreich (mit Ausnahme vor Vorarlberg) empfohlen. Damit sollten  „ähnliche Auslastungssituationen wie in den östlichen Bundesländern vermieden“ werden.“In Wien, Niederösterreich und Burgenland nähern sich die Intensivstationen der Auslandsgrenze.

Riskanter Poker

Wird Österreich von Mutlosen regiert, die sich nicht trauen, den Bürgern reinen Wein einzuschenken? Der Kanzler scheint von der Hoffnung getragen zu sein, dass es sich irgendwie bis zum Sommer ausgeht. In den Spitälern könne man noch, so der Tenor, mit den Betten jonglieren. Im April, wenn die über 65-Jährigen geimpft sind, spätestens im Mai, wenn die über 50-Jährigen dran waren,  sei das Schlimmste überstanden. Sollte es nicht reichen, müsste man die Notbremse ziehen und einen Lockdown verhängen. Ein riskanter Poker.