Herr Minister, wir haben nach wie vor Dutzende Covid-Tote jeden Tag, eine 7-Tage-Inzidenz um die 200 – und jetzt bekommen wir einen dritten Lockdown. Haben wir in der Pandemie-Bekämpfung versagt?

RUDOLF ANSCHOBER: Nein, hätten wir versagt, würden wir völlig anders dastehen. Die zweite Welle hat in ganz Europa eine viel stärkere Dynamik und Wucht als die erste. Deshalb sind in ganz Europa die Infektionszahlen gestiegen, auch bei uns. Aber wir haben jetzt mit unserem neuen Plan die Chance, die Infektionen bis Mitte Jänner drastisch zu verringern und so die Zahl der Intensivpatienten und Todesfälle stark zu senken.

Sind wir zu früh aus dem zweiten Lockdown herausgegangen?

Der Teil-Lockdown ab 4. November hat zu einer ersten Stabilisierung der Zahlen auf extrem hohen Niveau geführt, aber er konnte den Trend nach oben brechen. Ab 24. Oktober hatten wir eine explosionsartige Steigerung der Zahl der Infektionen bis hin zur Bedrohung der Spitalskapazitäten. Dann ist es uns mit dem zweiten Lockdown gelungen, das zu drücken. Jetzt müssen wir diesen Weg konsequent fortsetzen.

Wie wollen Sie gewährleisten, dass der neue Lockdown bis Mitte Jänner nicht ebenso verpufft?

Der Trend der letzten Wochen passt, wir konnten die Zahl der Intensivpatienten deutlich verringern, die Reproduktionszahl sinkt. Wir sind auf halbem Weg und können und werden es schaffen, das Infektionsgeschehen massiv weiter abzusenken.

Wenn wir weiter zurückschauen: war nicht schon die Öffnung über den Sommer ein Fehler?

Du kannst ein ganzes Land nicht so lange in einem Lockdown halten. Es war richtig, schrittweise zu öffnen. Im Sommer sind viele Faktoren gleichzeitig zusammengekommen: die Öffnung, der Tourismus, die Grenzöffnungen. Bewegungen und Kontakte haben sich vervielfacht, die Risikolage hat sich dynamisiert. Bis 22. Oktober war die Lage laut allen Experten kritisch, aber stabil. Und dann sind die Zahlen explodiert. Wie in allen EU-Staaten und bei allen Nachbarn.

Wenn das so ist: haben wir dann die richtigen Experten?

Ja, schon. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sowohl im Haus als auch im Beraterstab eine ganz hohe Kompetenz da ist. Es ist einfacher, das Buch von hinten zu lesen, als es zu schreiben.

Was lernen wir daraus für die nächsten Öffnungsschritte, wann immer diese kommen mögen?

Aus meiner Sicht heißt das, dass wir noch vorsichtiger sein müssen, was Öffnungsschritte betrifft. Die zentrale Rolle haben für mich Contact-Tracing, Kontaktpersonen-Management und viele Testungen. Das muss durch umfassende Digitalisierung für alle Seiten einfacher und schneller werden, für die Betroffenen aber auch für die Behörden. Das ist mein dringender Appell an die Länder.

Das Contact-Tracing hat ab dem Zeitpunkt, wo das explosive Wachstum eingetreten ist, nicht mehr funktioniert. Gibt es eine Maßzahl, bis zu der sich das einfangen lässt?

Die von mir sehr geschätzte deutsche Bundeskanzlerin hat den Ausspruch getätigt „Wir müssen in Richtung 7-Tage-Inzidenz von 50 kommen“, erst dann funktioniert das wieder. Deutschland ist derzeit bei 190.

Seit Oktober ist klar, dass man mehr Personal braucht. Wieso sind die Länder nicht längst so weit?

Da muss ich die Länder in Schutz nehmen: Die haben schon massiv aufgestockt. Aber je mehr ich teste, je mehr Menschen ich identifiziere, desto mehr habe ich in der Behörde zu tun beim Kontaktpersonenmanagement. Der Lockdown, wo man mit den Zahlen herunterkommt, ist die Phase, wo die Länder sich vorbereiten können – durch gemeinsame umfassende Digitalisierung.

Viele Leser haben anlässlich der Regeln für 24. und 25. Dezember geschrieben: man kennt sich nicht mehr aus. Wir erklären Sie in zwei Sätzen dem einzelnen Bürger, wie er Weihnachten feiern soll?

Punkt 1: Seien Sie vorsichtig, passen Sie auf sich auf, halten sie alle Grundsatzregeln ein, von Hygienemaßnahmen bis zum Mindestabstand. Überall dort, wo man einen engeren Kontakt hat, kann ich nur generell den Mund-Nasen-Schutz empfehlen. Wir sitzen jetzt beim Interview, ohne dass wir eine gesetzliche Vorgabe haben, tragen wir beide Mund-Nasen-Schutz – das ist der beste Schutz und die beste Vorsichtsmaßnahme, also das auch an Feiertagen einhalten. Punkt 2: Es gibt für diese beiden Tage die nächtliche Ausgangsbeschränkung nicht, es gibt die Möglichkeit, dass sich bis zu zehn Personen treffen, um Weihnachten zu begehen. Aber bitte das Vorsichtsgebot auch zu diesem Zeitpunkt konsequent einhalten.

Warum gerade die Zahl 10? Es ist ja nicht so, dass es ab der 11. Person gefährlicher würde.

Wir haben uns einfach angesehen, was die Lebensrealitäten in unserem Land sind. Viele Familien sind im ganzen Land zerstreut, da können die zwei oder drei Kinder mit den Enkerln die Großeltern kurz besuchen.

Wann werden Sie selbst sich denn impfen lassen?

Wir haben einen Impfplan erarbeitet und der gilt auch für mich. Die Beschaffung des Impfstoffes ist eine europäische Erfolgsgeschichte, denn dass Europa gemeinsam verhandelt hat und es keine Alleingänge gegeben hat, das ist für uns als kleines Land ein totaler Gewinn. Der große Appell ist, jetzt haben wir die Chance und müssen sie nützen.

Die USA und die Briten haben bereits mit den Impfungen begonnen, die EU wartet nach wie vor auf die Zulassung der Europäischen Arzneimittelbehörde. Warum dauert es um so viel länger?

Unsere Vorgabe für die EMA war, dass Sicherheit im Mittelpunkt steht.

49 Prozent der Österreicher wissen noch nicht, ob sie sich impfen lassen. Wie wollen Sie sie überzeugen?

Durch ehrliche Informationsarbeit. Das erste Informationsangebot wird sein, dass wir eine Hotline zur Verfügung stellen werden, wo jede Frage gestellt werden kann, die für den einzelnen Bürger interessant ist. Die wird ab Montag in Betrieb sein. Dazu findet die Bevölkerung auf sozialministerium.at Antworten auf alle Fragen.

Wann wird der Punkt erreicht sein, an dem wir auf Maske usw. verzichten können, weil genug Leute geimpft sind?

Da traue ich mir noch keine präzise Prognose zu. In Summe wird es im ersten Halbjahr um eine Verringerung des Risikos für jeden einzelnen Geimpften gehen, eine schwere Covid-Erkrankung zu haben. Dann werden wir sehen, ob es gelungen ist, die Ansteckungsrate deutlich zu drücken.

Auch, wenn jeder schon Gelegenheit hatte, sich impfen zu lassen, wird es weitere Einschränkungen geben?

Die alles entscheidende Frage wird sein, ob die Übertragungsrate durch die Impfungen massiv verringert werden konnte.

Gehen wir davon aus, dass die Impfung bald verfügbar ist und die Pandemie dann irgendwann einmal bekämpft ist. Wird man in Zukunft die Gesundheitsbehörden vorhalten müssen oder fährt man das dann wieder auf dieses ein bis zwei Leute pro BH zurück?

Mein Plan ist es, dass wir einen großen Überprüfungsprozess machen, was ist in diesem Land bei der Pandemie-Bekämpfung gutgelaufen und wo wir Lücken haben. In den letzten Jahren hat sich Österreich viel zu wenig auf eine Pandemie vorbereitet: zum Beispiel hatten wir keine Lagerhaltung für Schutzkleidungen, außer dem Rauch-Kallat-Maskenbestand. Europa hat über zehn Jahre zugeschaut wie sich die Medikamentenproduktion Europas fast zu hundert Prozent in wesentlichen Bereichen nach Asien verschoben hat. Wir haben ein Epidemie-Gesetz, kein Pandemie-Gesetz, und das stammt im Kern aus dem Jahr 1913 und so schaut es auch aus. Man ist in Risikozeiten dann einfach verwundbar und solche Dinge muss man reformieren. Wir müssen krisenfest werden.

Wie geht es Ihnen nach diesem Wahnsinns-Jahr?

Wie uns allen in Österreich. Das Jahr war eine enorme Herausforderung. Ich bemühe mich mit aller Kraft, um Österreich mit ruhiger Hand durch diese Krise zu führen. Das geht manchmal an die Grenzen dessen, was man leisten kann. Im Regelfall heißt das Dauerbelastung, maximal vier bis fünf Stunden Schlaf. Aber wir sind ein tolles Team und es gibt großartige Rückmeldungen von großen Teilen der Bevölkerung. Das gibt so viel Kraft!

Von echten Menschen oder im politischen Zirkus?

Die Leute, die ich etwa im Zug zwischen Wien und Linz treffe, sagen mir ihre Meinung offen und ehrlich oder wenn ich mit dem Hund unterwegs bin. Das gibt mir extrem viel Kraft. Ich war 2012 krank und hatte ein Burnout, aber ich habe damals meine Regeln gelernt, damit ich halbwegs in Balance bleibe und die versuche ich möglichst gut einzuhalten – meine Qi Gong-Übung in der Früh oder die Runde mit meinem Hund am Morgen und am Abend.