Herr Professor Körtner, wie würden Sie in allgemein verständlichen Worten erklären, was der Verfassungsgerichtshof am Freitag zum Thema Sterbehilfe entschieden hat?
ULRICH KÖRTNER: Der VfGH hat geurteilt, dass das ausnahmslose Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung verfassungswidrig ist. Gleichzeitig hat er geurteilt, dass das bestehende Verbot der Tötung auf Verlangen, was man landläufig Euthanasie nennt, nicht verfassungswidrig ist.

Wie stehen Sie dazu?
KÖRTNER: Es ist für mich eine gute Nachricht, dass Euthanasie strafbar bleibt. Wir werden also keine Verhältnisse wie in Holland, Belgien oder Luxemburg bekommen, wo es neben der Beihilfe zur Selbsttötung auch die aktive Sterbehilfe gibt. Man hat sie seinerzeit für eng begrenzte Konstellationen eingeführt. Im Laufe der Jahre haben sich die Anlässe, warum Tötung auf Verlangen straffrei sein soll, immer mehr ausgeweitet, sodass es heute nicht nur mehr um Menschen geht, die an einer schweren, unheilbaren Krankheit leiden, sondern etwa auch um Menschen mit Depressionen, sogar Jugendliche. Dass das alles bei uns nicht kommt, ist eine positive Nachricht.

Aber dieser Aspekt wurde vom Gericht nur abgelehnt, weil der Antrag formal falsch gestellt war, weil der Wegfall der Textpassage nur zur Erhöhung des Strafmaßes geführt hätte. In der Sache hat das Gericht die Frage nicht behandelt, ob Tötung auf Verlangen legal sein sollte oder nicht.
KÖRTNER: Sie haben recht, die Sache ist wahrscheinlich nicht endgültig vom Tisch. Es bleibt für mich aber ein ethischer und juristischer Unterschied, ob ich jemanden aktiv töte oder ob ich Beihilfe leiste dafür, dass jemand sich selbst tötet. So hoffe ich, dass wir in Österreich nicht eine Gesetzgebung bekommen, die Tötung auf Verlangen zulässt.

Die katholischen Bischöfe haben nach dem Urteil von einem Dammbruch gesprochen. Franz-Joseph Huainigg, der langjährige Behindertensprecher der ÖVP, fürchtet, dass sich am Ende kranke und behinderte Menschen werden rechtfertigen müssen, warum sie leben wollen. Sehen Sie die Gefahr einer solchen Rechtfertigungsumkehr?
KÖRTNER: Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, ich verstehe Huainiggs Aussagen sehr gut: Wenn jetzt keine verfassungskonforme Gesetzgebung durchsetzbar ist, die Einschränkungen vornimmt, dann kann tatsächlich eine Umkehr passieren: Nicht der, der sich tötet, sondern der, der sich nicht tötet, wird rechenschaftspflichtig gegenüber seiner Umwelt. Diese Gefahr hat das Gericht allerdings auch ausdrücklich benannt, das muss man ihm auch zugutehalten. Was die Beihilfe zum Suizid betrifft, musste der VfGH das Recht auf freie Selbstbestimmung gegen den Lebensschutz abwägen. Das Recht auf Leben schließt ja keine Pflicht zum Leben ein, sonst dürfte es auch das Patientenverfügungsgesetz nicht geben.

Univ. Prof. Ulrich Körtner

Also ist diese Entscheidung des VfGH für Sie folgerichtig?
KÖRTNER: Der VfGH stand nur vor der Frage: Ist die ausnahmslose Bestrafung der Beihilfe zum Suizid verfassungswidrig, ja oder nein? Auch wenn ich nie ein Befürworter der Liberalisierung an dieser Stelle war, muss ich sagen, rechtsdogmatisch betrachtet liegt dem eine gewisse Logik zugrunde. Wenn die Selbsttötung keine strafbare Tat ist, kann eigentlich auch die Mitwirkung keine strafbare Tat sein. Die Anstiftung zur Selbsttötung bleibt ja strafbar. Es gibt also ein hohes Interesse der Rechtsordnung, Menschen von Selbsttötungen abzuhalten. Außerdem ist ausdrücklich gesagt worden, dass es jetzt am Gesetzgeber liegt, geeignete Maßnahmen zu setzen, um einen Missbrauch dieses Freiheitsrechts auszuschließen. Auch sehe ich die Politik gefordert, die palliativmedizinische Versorgung weiter auszubauen und zu finanzieren.

Welche Maßnahmen?
KÖRTNER: Wenn das Verbot fällt, wird zu fragen sein, welche Auswirkung das zum Beispiel auf das ärztliche Berufsrecht hat. Wird es Initiativen der Ärztekammer geben, Einschränkungen im Berufsrecht zu erreichen? Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres ist sehr besorgt, dass Beihilfe zur Selbsttötung zur ärztlichen Routine werden könnte, ein Geschäftsmodell.

Sie gehen noch weiter und sagen, Beihilfe könnte für Ärzte sogar verpflichtend werden.
KÖRTNER: Erst einmal nicht. Niemand ist verpflichtet, mir die Hilfe zu geben. Ich habe nur weitergedacht. Wenn man die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ansieht, könnte aus der Freiheit zur Selbsttötung langfristig ein Recht auf Selbsttötung werden, ein positiv einklagbares Recht. Dann müsste der Staat die Möglichkeit bereitstellen. So argumentiert der Sterbehilfeverein Dignitas. Ich weise nur auf die Gefahr hin, dass die Entwicklung dorthin gehen könnte. Die Schwierigkeit wird jetzt sein, Gesetze zu formulieren, die nicht über kurz oder lang vor dem Verfassungsgerichtshof landen, der sie wieder aufhebt.

Weil alles, was das Selbstbestimmungsrecht einschränkt, mit dem gleichen Argument wieder vom Tisch gewischt werden kann?
KÖRTNER: Diese Problematik sehe ich. Als Ethiker geht es aber nicht darum, was ich gerne hätte. Ich muss mich damit auseinandersetzen, dass das Recht eine immanente Logik hat.

Wird der Verfassungsgerichtshof dann nicht auch die aktive Sterbehilfe freigeben müssen?
KÖRTNER: Es ist noch keineswegs ausgemacht, dass die Legalisierung der Tötung auf Verlangen die Konsequenz sein muss. In der Schweiz und in Deutschland ist sie das auch nicht.

Die Sterbehilfevereine tun das nicht?
KÖRTNER: Nein, sie bieten assistierten Suizid an.

Wird es auch bei uns solche Vereine geben?
KÖRTNER: Das ist die logische Folge der Entscheidung. Die Schweiz wird das Modell sein. Generell solche Vereine zu verbieten, ist nicht möglich. So ein Verbot ist in Deutschland gekippt worden und würde wahrscheinlich auch bei uns gekippt werden. Dass es in einem Jahr klappen wird, für all die offenen rechtlichen Detailfragen eine wirklich solide legistische Lösung hinzukriegen, bin ich skeptisch.

Weil die Fragen zu komplex sind oder weil die Regierung diesbezüglich uneins ist?
KÖRTNER: Sowohl als auch. Ich finde es bedauerlich, wenn gravierende gesellschaftspolitische Fragen durch Untätigkeit des Gesetzgebers am Ende immer den Gerichten zugeschoben werden, sodass dann mittelbar das Verfassungsgericht die Rolle gesellschaftspolitischer Gestaltung übernimmt. Das passiert eben dann, wenn der Gesetzgeber notorisch durch Untätigkeit versucht, den zugegebenermaßen sehr kontroversen Dingen auszuweichen.

Was passiert, wenn innerhalb des kommenden Jahres nichts passiert?
KÖRTNER: Wenn der Gesetzgeber untätig bleibt, werden wir am Ende des Jahres eine ganz liberale Lösung haben, dergestalt, dass alles ungeregelt ist und ein sehr weiter Aktionsbereich für Beihilfe zur Selbsttötung gegeben ist. Das wünsche ich mir keinesfalls.

Was müsste geregelt werden?
KÖRTNER: Abgesehen vom Strafrecht geht es um das Berufsrecht von Ärzten und Pflegeberufen. Sollen Ärzte in Pflegeheime gehen können und Beihilfe leisten? Auch beim Pflegepersonal gib es Grauzonen, die zu regeln wären. Dass schwer kranke, gebrechliche oder demente Menschen nicht unter die Räder kommen, weil gesunde, starke das Recht auf Selbstbestimmung für sich reklamieren, ist die ethische Aufgabe, der wir uns jetzt stellen müssen.