Bereits eine halbe Stunde, bevor der Schöffensenat im Großen Schwurgerichtssaal im Wiener Straflandesgericht Platz nimmt, ist dieser gut gefüllt. Es riecht nach Desinfektionsmittel, das Gemurmel der anwesenden Journalisten und Verteidiger wird von ihren Gesichtsmasken gedämpft. Strenge Corona-Maßnahmen haben viele Beobachter auf die Galerie verbannt, um die Abstandsregeln einhalten zu können. Der Medienandrang ist groß, auch ausländische Vertreter wollen dabei sein, wenn das Urteil über Österreichs ehemaligen Finanzminister Karl-Heinz Grasser gesprochen wird.

Als dieser nach seiner Ankunft vom Licht der wenigen zugelassenen Kameras angestrahlt wird, dauert es nicht lange, bis jene Vier den Saal betreten, die über ihn richten werden. Richterin Marion Hohenecker, die an diesem Vormittag als einzige ihren Mund-Nasen-Schutz abnehmen darf, nimmt Platz, neben ihr sitzen der zweite Berufsrichter und die zwei Schöffen. Und wie es Hoheneckers Art ist, beginnt sie ohne Umschweife damit, das Urteil zu verlesen. Und was sie verliest, hat es in sich. Grasser, sein Trauzeuge Walter Meischberger und der Ex-Lobbyist Peter Hochegger werden nach elf Jahren und 168 Prozesstagen vom Senat schuldig gesprochen.

„Wer redlich wirtschaftet, benötigt keine Konten in Liechtenstein“

Grasser habe sich mit Ende 2003 der Untreue schuldig gemacht und der Republik durch die Provision in Höhe von 9,6 Millionen Euro, die beim Verkauf der Bundeswohnungen (Buwog) geflossenen ist, Schaden zugefügt. Er selbst sei es gewesen, der – so sieht es auch die Anklage – Meischberger den entscheidenden Tipp für das Bieterverfahren gegeben habe. Dass dieser behauptet, den Tipp von Ex-Landeshauptmann Jörg Haider bekommen zu haben, hält der Senat für eine Schutzbehauptung, sagt Hohenecker – „weil man den nicht mehr fragen kann“.

Bei der Einmietung der Finanz in den Linzer Terminal Tower sei die Republik ebenfalls zu Schaden gekommen. Auch hier habe Grasser bei den geflossenen 200.000 Euro mitkassiert. Deshalb sei er auch des Verbrechens der Geschenkannahme als Beamter schuldig. Um die geflossenen Gelder zu vertuschen, seien Firmenkonstruktionen im Ausland aufgebaut worden. „Wer redlich wirtschaftet, benötigt keine Konten in Liechtenstein“, sagt Hohenecker. Diese Verschleierung bringt Grasser auch einen Schuldspruch wegen Fälschung von Beweismitteln ein.

"Abwegig und widerlegt"

Es bestehe für den Senat kein Zweifel an der Schuld Grassers, erklärt die Richterin mit ernster Miene. Dies haben Unterlagen, Beweismittel sowie Zeugenaussagen bestätigt. Zudem sei laut Senat der „Tatplan“, von dem die Staatsanwaltschaft ausgeht, erstellt und erfüllt worden. Und die Erklärung für das berühmte „Schwiegermutter-Geld“ in Höhe von 500.000 Euro, das Grasser von seiner Schwiegermutter zur Veranlagung bekommen haben will, sei „abwegig und widerlegt“. Der ehemalige Finanzminister der Republik wird zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Dass das volle Maß von bis zu 15 Jahren nicht ausgeschöpft wurde, liege daran, dass die Tat „lange zurückliegt“ und Grasser sich seither nichts zu Schulden kommen hat lassen, so die Richterin.

Grasser, der in der ersten Reihe sitzt, zeigt keinerlei Regung, er schaut mehrfach zu Boden. Ein Mal blickt ihn Meischberger, mit dem ihm eine jahrelange Freundschaft verbunden hatte, von der Seite an. Doch er reagiert nicht. Wenig später wird Meischberger in denselben Punkten schuldig gesprochen, er sei Grassers Mittelsmann gewesen. Der Angesprochene wirkt während der Verlesung unruhig, dreht sich mehrfach zu seinem Verteidiger um. Als die Richterin verkündet, dass er zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird, dreht er sich kurz zu seinen Angehörigen um, zwinkert aufmunternd und zuckt mit den Schultern. Wenig später raunt er seinem Verteidiger etwas zu und verlässt wortlos den Saal. Er wird an diesem Vormittag weder zurückkommen, noch im Anschluss eine Erklärung abgeben. Lediglich sein Verteidiger verfolgt die Begründung.

Meischberger habe als Grassers „Mittelsmann“ gedient, dessen Information im Bieterverfahren weitergeleitet und Grasser „psychischen Rückhalt“ geboten. Zudem sei klar, dass er in den Tatplan verwickelt war und an dessen Verfolgung mitgearbeitet habe.

Hochkomplexe Lesung

Hohenecker galoppiert durch die Urteilsverkündung, nach 30 Minuten nimmt sie den ersten Schluck Wasser. Sogar die Verteidiger, die sich immer wieder beraten, müssen sich konzentrieren, um mitzukommen. Sätze wie „Doppel Emil zu römisch Eins, Arabisch Zwei, groß Anton, klein Heinrich“ geben zwar Auskunft darüber, bei welchem Abschnitt die Richterin gerade ist, sorgen aber für zusätzliche Verwirrung. Wenig später ist sie bei Hochegger angekommen, der zu Prozessbeginn ein Teilgeständnis abgelegt hatte. Er wird wegen Untreue, Geschenkannahme und Bestechung verurteilt, in der Causa Terminal Tower wird er freigesprochen.

In der Telekom-Anklage setzt es jedoch eine Verurteilung wegen Beitrag zur Untreue sowie einer falschen Beweisaussage im Untersuchungsausschuss. Hochegger fasst dafür sechs Jahre aus, was viele im Saal überrascht. Dass sich sein Teilgeständnis nicht strafmindernd ausgewirkt hat, begründet die Richterin damit, dass dieses nicht umfassend, zeitnah und reumütig genug gewesen sei. Zudem habe es nicht zur Wahrheitsfindung beigetragen.

"Glattes Fehlurteil"

Während Hohenecker weiterliest, schießen sich Grassers Verteidiger bereits digital auf die Richterin ein. Wurde sie von ihnen und ihrem Mandanten am letzten Sitzungstag noch für ihre objektive Verfahrensführung gelobt, spricht Anwalt Manfred Ainedter in einer Aussendung nun von einem „glatten Fehlurteil“. Zudem werde man den zu Prozessbeginn geäußerten Verdacht ihrer Befangenheit vor den Verfassungsgerichtshof bringen. Tweets ihres Ehemannes hatten für Aufregung gesorgt. Auch Jörg Zarbl, Meischbergers Anwalt, lässt wissen: „Es ist ein unfassbares Fehlurteil, bei welchem Meischberger im Zweifel schuldig gesprochen wurde. Wir werden die Fragen der Befangenheit der Vorsitzenden Richterin und der Videoüberwachung der Verteidiger im Verhandlungssaal vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof bringen.“ Das Urteil werde nicht halten.

Wenig später setzt es fünf weitere Schuldsprüche. Ex-Immofinanz-Chef Karl Petrikovics wird als Beitragstäter zu Grassers Untreue und wegen Bestechung zu einer Zusatzhaftstrafe von zwei Jahren verurteilt, der Ex-Vorstand der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich, Georg Starzer, bekam für dieselben Delikte drei Jahre Haft. Ex-Telekom-Vorstand Rudolf Fischer fasste eine Zusatzhaftstrafe wegen Untreue von einem Jahr aus. Neben einem Schweizer Vermögensberater wurde auch Meischbergers Ex-Anwalt Gerald Toifl für schuldig befunden. Beide fassten geringere Haftstrafen aus.

„Sie sehen mich heute traurig, schockiert und erschrocken“

Nach zweieinhalb Stunden schließt die Richterin die Verhandlung so unaufgeregt, wie sie sie eröffnet hat. Wenig später wird Grasser mit einer Stellungnahme vor die Presse treten, die er auf kleine, weiße Zettel gekritzelt hat. „Sie sehen mich heute traurig, schockiert und erschrocken“, erklärt er. „Ich weiß, dass ich unschuldig bin. Ich weiß, dass ich korrekt gehandelt habe in meiner Verantwortung als Bundesminister für Finanzen und dass ich mir nichts zuschulden kommen habe lassen.“ Aus einer „politischen Anzeige ist ein politischer Schuldspruch ohne Beweise ergangen.“

Doch der größte Prozess der Zweiten Republik ist noch nicht beendet. Bis Montag Mitternacht können gegen Urteil und/oder Strafmaß Rechtsmittel eingelegt werden. Eine Nichtigkeitsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof und eine Strafberufung an das Oberlandesgericht sind möglich. Damit ist kein Urteil rechtskräftig. Grasser, Meischberger und Hochegger werden dies tun, die Staatsanwaltschaft prüft. Meischbergers Anwalt dürfte also recht behalten: „Dieses Verfahren ist noch lange nicht beendet.“