Das politische und rechtliche Nachspiel um die späte Reaktion des Tiroler Skiorts Ischgl auf das Coronavirus hat gerade erst begonnen –und trotzdem tauchen im Wochentakt neue Enthüllungen auf, die erahnen lassen, wie Ischgl zu einer der zentralen Drehscheiben des Coronavirus in Europa werden konnte.

So berichtet das aktuelle „profil“, das Einsicht in den tausendseitigen Zwischenbericht nehmen konnte, den das Landeskriminalamt Tirol der Staatsanwaltschaft Innsbruck vorgelegt hat, von bemerkenswerten Polizeiprotokollen: So vermerkten Beamte am Abend des 11. März eine Menge Gäste bei der „Schatzi-Bar“, einer der Aprés-Ski-Lokale gleich vis-a-vis dem Ende der Abfahrt ins Ortszentrum. Das Problem: Zu dieser Zeit waren sämtliche Aprés-Ski-Lokale eigentlich schon behördlich geschlossen.

Die Polizisten protokollierten den Menschenauflauf – und unternahmen nichts: „Eine zwangsweise Durchsetzung der Verordnung schien aufgrund des wetterbedingt starken Personenverkehrs und dem Umstand, dass damit lediglich eine Verlagerung der Menschenansammlungen erzielt würde, nicht verhältnismäßig“, zitiert „profil“ den Bericht der Polizei an die Bezirkshauptmannschaft Landeck, die Aprés-Ski-Aktivitäten ab 10. März nach dem Epidemiegesetz untersagt hatte. Im Zwischenbericht dokumentiert das Landeskriminalamt noch weitere Fälle, in denen solche Schließungen – erfolgt erst Tage nachdem Warnungen erkrankter Gäste eingegangen waren – nicht befolgt wurden.

Das Büro von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) wollte am Samstag auf Anfrage der Kleinen Zeitung keinen Kommentar zu den neuen Enthüllungen abgeben. Intensiv beschäftigen sie dagegen die Opposition. SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher kündigt eine parlamentarische Anfrage an: „Egal ob aus Überforderung oder weil wirtschaftliche Interessen über die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung gestellt worden seien, was in Tirol geschehen ist, darf sich so nie mehr wiederholen“, sagt Kucher – er will nach Interessenkonflikten zwischen Seilbahnwirtschaft und der Polizei fragen.

Auch für FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz habe Nehammer „gewaltigen Aufklärungsbedarf“: „In Ischgl hat man es anscheinend billigend und sehr locker in Kauf genommen, dass ganz Europa mit Infizierten aus diesem Skiort überschwemmt wird. Aus wirtschaftlichen Gründen und Profitgier die Gesundheit vieler Menschen aufs Spiel zu setzen, ist unentschuldbar“, sagt Schnedlitz, der abermals auf einen Corona-Untersuchungsausschuss pocht.

Ein solcher war vergangene Woche von der türkis-grünen Mehrheit im Nationalrat (eine solche regiert auch in Tirol) abgelehnt worden. Auch die Neos stimmten dagegen: Der Zeitpunkt dafür sei noch nicht gekommen. U-Ausschüsse sind zwar Minderheitenrecht – auf diese Art kann jedoch nur ein einzelner solcher Ausschuss einberufen werden. SPÖ, FPÖ und Neos haben als Minderheit aber bereits den Ibiza-U-Ausschuss eingesetzt – deshalb heißt es nun warten auf eine Mehrheit.

Einstweilen läuft das rechtliche Nachspiel auf mehreren Ebenen neben den Ermittlungen: Das Land Tirol hat vor kurzem eine Untersuchungskommission eingesetzt – die aber, weil das Epidemierecht Bundessache ist, kein Durchgriffsrecht hat.

Verbraucherschützer Peter Kolba (ehemals Liste Pilz-Klubobmann), der mehr als 5000 Corona-Infektionen im Zusammenhang mit Ischgl gefunden hat, strebt auch eine Sammelklage auf Schadenersatz an.