Sebastian Kurz ist ein Meister der Inszenierung – und überlässt nichts dem Zufall. Zehn Wochen lang hatte sich der Kanzler coronabedingt im Kanzleramt eingebunkert, nur zum Schlafen fuhr er nach Hause nach Meidling. Alle Außentermine wurden abgesagt. Regiert wurde ausschließlich vom Ballhausplatz aus.

Am Mittwoch wollte Kurz erstmals wieder raus in die Bundesländer. Den Zuschlag für die Premiere erhielt Vorarlberg – und da das von Österreich auf dem Landweg nicht erreichbare, nur über Bayern anzusteuernde Kleinwalsertal. In der Vergangenheit hatte sich die Exklave als Steueroase für Deutsche einen Namen gemacht, bundespolitisch war das schmale Tal ein blinder Fleck auf der Landkarte: Der letzte Kanzler, der seinen Fuß ins Kleinwalsertal gesetzt hatte, war Bruno Kreisky – 1973.

Kurz wird in den letzten Wochen darüber informiert worden sein, dass den 5000 Bewohnern in der Hochphase des Corona-Lockdowns ein besonderes Schicksal widerfahren ist: Mit der Schließung der deutschen Grenze mutierte das Kleinwalsertal zum Freiluftgefängnis. Seit dem 1. Mai dürfen die Bewohner wieder das Tal verlassen – ein ideales Setting für einen großen Medientermin mit österreichischen und deutschen Medien aus Anlass der Ankündigung, dass bald wieder die Grenzbalken aufgehen.

Beflaggung im Mitterberg

Vor diesem Hintergrund mag so manche Euphorie in dem abgelegenen Winkel des Landes verständlich sein. Via Facebook rief die Gemeinde Mitterberg die Bevölkerung zur Beflaggung der Häuser bzw. zu Bekundungen entlang der Fahrtroute auf. Dass ein Treffen mit dem Kanzler wegen Corona nicht möglich sei, wurde in dem Posting ausdrücklich festgehalten. Mitgeliefert wurde aber auch, wann der Kanzler wo zugegen sei: um 19.30 Uhr an der Grenze, um 20 Uhr im Walserhaus.

Am Grenzübergang lief – aus Sicht des Kanzleramts – noch alles in geordneten Bahnen ab, abgesehen von Kameraleuten und Fotografen, die Schulter an Schulter den Kanzler ins Blickfeld nahmen. Beim Termin mit lokalen Politikern und Geschäftsleuten im Walserhaus versagte dann die Regie. Rund 100 Bewohner, viele mit einer Österreichfahne, erwarteten Kurz vor dem Gebäude.

Von Menschentraube umringt

Als er aus dem Fahrzeug stieg, strömten, wie ein Video der „Vorarlberger Nachrichten“ zeigt, die Menschen auf ihn zu. Zwei Monate lang hatte die Regierung den Österreichern eingetrichtert, Versammlungen in der Öffentlichkeit zu meiden und auf Abstand zu achten. Vor dem Walserhaus war von Abstand nichts mehr zu sehen, Kurz war bald von einer Menschentraube umringt. Offenkundig von schlechtem Gewissen geplagt, im Wissen um die Macht der Bilder, erinnerte der Kanzler seine Fangemeinde zwar immer wieder an die Abstandsregeln – vergeblich. Ehe Kurz im Gebäude verschwand, richtet er noch ein paar Worte an die Menge – ohne Mikrofon, allerdings unter einem Zeltdach.

Laut Verordnungen sind solche Kundgebungen derzeit nicht möglich. Gegenüber der Kleinen Zeitung versicherte Kurz: „Dass ich die Situation und den spontanen Zuspruch der Leute, die mich umringt haben, genossen hätte, ist unwahr. Das Gegenteil stimmt. Ich habe mich noch nie so unwohl gefühlt. Wir waren schockiert, und es gab in dem Moment nur zwei Möglichkeiten: vor oder zurück.“ Es stimme auch nicht, dass er, Kurz, den Besuch zu einer öffentlichen Rede genutzt habe. „Ich habe auf der Gemeindestiege die Leute lediglich begrüßt, habe ihnen gedankt und sie gebeten, die Abstandsregeln einzuhalten. Wissend, dass es dort im Kleinwalsertal kein Virus gibt.“

Keiner Schuld bewusst

Er fühle sich keiner Schuld bewusst. In der ZiB 2 erklärte Kurz, dass man Konsequenzen daraus ziehen werde. Für künftige Auftritte in den Bundesländern sei ein neues Konzept erstellt worden. So sollen Bürger nur noch bei Sprechstunden in Kontakt mit Politiker treten dürfen, die Ankunftszeiten werde man nicht mehr veröffentlichen.

Immer wieder spielte Kurz auch den Ball an die Medien zurück: Diese seien die ersten gewesen, die bei seiner Ankunft im Kleinwalsertal die Abstände nicht eingehalten hätten.

Für die Opposition waren die Vorkommnisse im Kleinwalsertal ein gefundenes Fressen. Die Neos prüfen eine Anzeige, ihre Obfrau Beate Meinl-Reisinger empörte sich: „Was man gesehen hat, entbehrt jeglichen Verantwortungsbewusstseins.“ Deshalb forderte sie eine Entschuldigung von Kurz.

Opposition "erschüttert"

SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner bemerkte spitz, dass sie Personenkult ablehne. Gleichzeitig kündigte sie parlamentarische Anfragen an. Er habe es zuerst nicht glauben können. „Leider ist es Realität. Ich bin erschüttert.“ "So geht das nicht" - so reagierte Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SP) auf die Bilder des Besuchs von Bundeskanzler Sebastian Kurz (VP) im Kleinwalsertal. Der Mindestabstand sei zu einem neuen Dogma geworden, Kunst-, Kultur- und Sportveranstaltungen seien untersagt worden, ältere Menschen müssten auf Besuch ihrer Liebsten verzichten. Doch für den Kanzler gelten „offensichtlich andere Gesetze. So geht das nicht“. Das sei „schamlos“. Kaiser fordert, „dass dieselben Maßstäbe angelegt werden, wie bei Menschen, die abgestraft wurden“. 

FPÖ-Klubchef Herbert Kickl wiederum nannte Kurz in Anspielung auf frühere Warnungen der Regierung bezüglich Abstandhaltens einen „Lebensgefährder.“