Abstimmungen im Parlament müssen durch jeden einzelnen Mandatar persönlich erfolgen. In der Präsidiale diese Woche wurde darüber gestritten, was das für Abgeordnete mit Covid-19-Verdacht bedeutet. Dürfen sie an der Parlamentssitzung teilnehmen?

WOLFGANG SOBOTKA: Es gibt keinen Streit, sondern unterschiedliche Rechtsansichten. Ich setzte da auf die Eigenverantwortung der Abgeordneten. Wenn jemand von der Behörde die Auflage bekommen hat, zu Hause zu bleiben, und trotzdem kommt, würde ich natürlich das Hausrecht einschalten.

Aus einem Verdachtsfall werden innerhalb einer Organisation schnell viele. Wie ist sichergestellt, dass das Parlament in diesem Fall handlungsfähig bleibt?

Das Parlament ist immer handlungsfähig, in letzter Stufe im Wege des Notverordnungsrechts; davon sind wir aber derzeit weit entfernt. Es ist wesentlich, dass auch in der Krise alles auf Basis der Rechtsstaatlichkeit passiert. Nur das gibt den Menschen auch die Garantie, dass es keine Willkür gibt. Auch die Sicherheitsorgane brauchen gesetzliche Grundlagen, um ihre Arbeit tun zu können.

Die Grundrechte der Menschen werden gerade extrem eingeschränkt. Es verflüssigen sich Kernbestandteile der Verfassung.

Nein, das stimmt so nicht. Es werden keine Grundrechte außer Kraft gesetzt. Unsere Verfassung funktioniert. Die zurückliegenden Beschlüsse des Parlaments sind dafür das beste Beispiel. Das ist das Schöne an unserer Verfassung, dass sie den Krisenmodus vorsieht, und es uns ermöglicht, verfassungskonform zu reagieren. Außerdem sind die meisten Maßnahmen zeitlich begrenzt.

Wie lange hält unsere liberale Gesellschaft diese Einschränkungen aus?

Man kann lange mit bestimmten Maßnahmen leben, wenn man einen Sinn darin erkennt. Gerade in Krisen entwickeln Menschen immer neue Strategien. Viktor Frankl hat gesagt „Wenn man die Situation nicht ändern kann, dann muss man sich als Mensch ändern.“ Trauen wir uns das zu.

Man geht davon aus, dass häusliche Gewalt und Depressionen in der Isolation zunehmen. Muss man das als Kollateralschaden hinnehmen?

Nein. Man bemüht sich massiv um Schlafplätze für Frauen in Not. Die psychologischen Beratungsstellen haben ihre personellen Ressourcen aufgestockt. Aber auch hier können und dürfen wir die Menschen nicht aus der Eigenverantwortung nehmen. Es wird an jedem einzelnen von uns liegen, die Einsamkeit von allein lebenden Menschen zu verhindern, etwa mit Anrufen. Und die Leute müssen hinaus in ihre Gärten, dass sie das Werden der Natur erleben können.

So sie Gärten haben ...

Oder auf ihre Balkone. Aber natürlich ist es wichtig, dass wir für diejenigen, die mit der Situation nicht zurecht kommen, Maßnahmen setzen.

Es gibt auch noch eine Flüchtlingskrise, eine Klimakrise und eine drohende Wirtschaftskrise. Kann der Umgang mit der aktuellen Situation eine Blaupause für andere Krisen sein?

Nein, weil jede besondere Situation besondere Maßnahmen erfordert. Wie gut Restriktionen von der Bevölkerung akzeptiert werden, hängt immer davon ab, wie gut diese Maßnahmen erklärt werden und wie unmittelbar die Menschen betroffen sind. Wenn die Corona-Krise bewältigt ist, wird es in Österreich aber eine parteiübergreifende Diskussion über ein modernes, gesamtstaatliches Krisen- und Katastrophengesetz geben müssen.